Dresden
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Zwischen Leben und Tod

Als Hebamme in Krisengebieten erlebt Dorothea Müller neben tiefer Verzweiflung immer wieder Glück und Hoffnung.

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Dorothea Müller arbeitet seit elf Jahren als Hebamme. Für Ärzte ohne Grenzen war die 31-Jährige bereits in Pakistan, im Kongo und im Jemen.
Dorothea Müller arbeitet seit elf Jahren als Hebamme. Für Ärzte ohne Grenzen war die 31-Jährige bereits in Pakistan, im Kongo und im Jemen. © Ärzte ohne Grenzen/PR

Für Ärzte ohne Grenzen reist sie dorthin, wo Menschen kaum eine Chance haben, an eine günstige oder gar kostenlose medizinische Versorgung zu kommen. Im Jemen leitet Dorothea Müller eine Geburtsstation. Sie erlebt bei ihrer Arbeit auch die kriegerischen Auseinandersetzungen hautnah mit. Kraft schöpft sie vor allem aus einer Sache. 

Frau Müller, Sie sind von ihrem jüngsten Einsatz für Ärzte ohne Grenzen im Jemen nach Dresden zurückkehrt. Was war dort Ihre Aufgabe?

Ich habe insgesamt sechs Monate in einem Mutter-Kind-Zentrum in Tais-Al-Huban gearbeitet, das von Ärzte ohne Grenzen vor einigen Jahren im Südwesten des Landes aufgebaut wurde und unweit der Frontlinie liegt. Die Klinik ist die einzige ihrer Art in der Nähe, die meisten öffentlichen Krankenhäuser befinden sich auf der anderen Seite der Front, weshalb die Bevölkerung kaum noch die Chance hat, an günstige oder kostenlose medizinische Versorgung zu kommen. Ich habe dort die Stationsleitung übernommen und die Schichten des medizinischen Personals koordiniert, Fortbildungen gegeben und selbst bei kritischen Geburten unterstützt.

Die Kämpfe im Jemen haben seit 2015 dramatische Auswirkungen für die Zivilbevölkerung. Wie ist die Situation für Frauen und Kinder?

Wie oftmals in Kriegs- oder Krisengebieten sind Frauen und Kinder besonders stark betroffen. Die meisten Mütter entbinden mithilfe einer traditionellen Hebamme Zuhause. Für sie ist es sehr schwer, in die Kliniken zu kommen, da die Fahrt dorthin mit Kosten und Gefahren verbunden ist. Vor dem Konflikt konnten die Bewohner von Al-Huban in zehn Minuten ein öffentliches Krankenhaus im Stadtzentrum von Tais erreichen. Heute kann der Weg sechs Stunden dauern. Wenn während der Schwangerschaft Komplikationen auftreten, kann diese Wartezeit mitunter schlimme Folgen haben. Etwa zwei Drittel kommen in einem sehr kritischen Zustand in die Klinik, bei dem es oft um Leben oder Tod geht.

Wie viel haben Sie während Ihrer Zeit dort von dem tatsächlichen Kriegsgeschehen mitbekommen?

Wir haben immer mal wieder Schusswechsel, Luftangriffe oder Detonationen gehört. Da die Frontlinie aber hinter einer Bergkuppe liegt, haben wir relativ wenig davon gesehen. Richtig bewusst geworden ist einem die Situation durch die Gespräche mit den Patienten oder den einheimischen Mitarbeitern, die davon erzählt haben, wie schwer der Weg in das Krankenhaus war, weil wieder aktiv gekämpft wurde.

Der Einsatz im Jemen unterscheidet sich stark von Ihrer Arbeit als Hebamme in Dresden. Wie sah Ihr Alltag aus?

Das Team von Ärzte ohne Grenzen hat in der Klinik sowohl gearbeitet als auch gewohnt. Als ich im vergangenen November dort ankam, herrschte ein striktes Ausgehverbot. Ab Januar durften wir einmal im Monat in ein Restaurant oder eine Art Vergnügungspark. Da die Front einfach zu risikoreich und schwer einzuschätzen ist, waren wir in der Bewegung stark eingeschränkt. Gearbeitet haben wir in zwei Schichten, entweder zehn Stunden am Tag oder 14 Stunden in der Nacht, was auf einer Geburtsstation natürlich besonders kräftezehrend ist. Wir mussten bei den Diensten immer darauf achten, dass die einheimischen Kollegen nicht in der Dunkelheit nach Hause gehen müssen, um sie nicht zusätzlich in Gefahr zu bringen.

Was wird Ihnen von dieser Zeit besonders in Erinnerung bleiben?

Vor allem die Faszination für die starken Mitarbeiterinnen in der Klinik. Obwohl fast alle von ihnen selbst von den Auswirkungen des Krieges betroffen sind und Angehörige verloren haben, sind sie sehr motiviert und haben immer ein Lächeln auf den Lippen, mit denen sie ihre Arbeit meistern. Mit ihnen Mütter und ihre Babys zu retten, war sehr bewegend. Natürlich bleiben auch negative Eindrücke hängen.

Welche Erinnerungen sind das?

Man durchlebt dort extreme Gegensätze. Neben der großen Freude über die Mütter und ihre Babys, die durchkommen, denkt man weiter an die Frauen, die es nicht geschafft haben. Mir ist es zudem sehr schwergefallen, die mangelnde Kapazität zu akzeptieren. Die Klinik war eigentlich für 650 Patientinnen ausgelegt, aktuell sind es jedoch knapp 1000 Entbindungen pro Monat. Hinzu kommen etwa 3000 weitere Konsultationen, die von den 90 Mitarbeiterinnen bewältigt werden. Wir mussten teilweise in den Fluren behandeln und eine Besserung der Situation ist nicht in Sicht, da das Gesundheitssystem im Jemen zerrüttet ist. Es müsste international noch viel mehr investiert werden, um das System wiederaufzubauen und zu stärken.

Sie arbeiten seit Kurzem wieder in Dresden. Wie schwer fällt es Ihnen, sich in Ihr altes Arbeitsumfeld einzufinden?

Ich arbeite im Hebammenhaus in der Neustadt und begleite vor allem Hausgeburten. Das ist natürlich ein unglaubliches Kontrastprogramm. Wir haben hier eine Eins-zu-eins-Betreuung, bei der ich mir sehr viel Zeit für die Frauen nehmen kann. Es ist ein schönes Arbeiten, aber ich vergleiche es momentan automatisch mit den Bedingungen im Jemen. Dort war ich froh, wenn ich mal drei Minuten Zeit für eine Schwangere hatte und mich auf sie einlassen konnte. Wir haben in Deutschland einen großen Luxus, was toll ist. Frauen dürfen hier selbstbestimmt gebären, sind gut informiert und alles ist schnell verfügbar. Es fällt mir manchmal nur schwer, anzunehmen, dass es so viele Unterschiede auf der Welt gibt. Ich schwanke zwischen großer Dankbarkeit und dieser Ungerechtigkeit.

Versuchen Sie in Dresden weiter über die Zustände im Jemen aufzuklären?

Ich möchte den Menschen aus dem Jemen gerne eine Stimme geben und versuche deshalb so gut es geht, auch hier über die Umstände und den Einsatz von Ärzte ohne Grenzen zu informieren. Ich glaube, es tut allen gut, wenn sie ab und zu hören, wofür wir hier wirklich dankbar sein können. Das weiß ich nun noch mehr zu schätzen, und ich denke, diese Dankbarkeit wirkt sich auch positiv auf meine Arbeit aus.

Das Interview führte Kristin Hermann

Weitere Informationen gibt es unter www.aerzte-ohne-grenzen.de