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Zwischen Traum und Leben

Die neue Görlitzer Tanztheaterproduktion ist eine Fantasie auf Alice im Wunderland. Aber sie geht weit darüber hinaus.

Von Ines Eifler
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Die Teegesellschaft des Hutmachers auf der illusionsreichen Görlitzer „Wunderland“-Bühne.
Die Teegesellschaft des Hutmachers auf der illusionsreichen Görlitzer „Wunderland“-Bühne. © Marlies Kross

Was für ein wunderbares Stück bringt das Görlitzer Tanztheater da gerade auf die Bühne. Fans des englischen Klassikers „Alice im Wunderland“ werden ihre wahre Freude daran haben! Das weiße Kaninchen, der verrückte Hutmacher, die rätselhafte Raupe, die herzlose Herzkönigin, froschhafte Lakaien und aufmüpfige Spielkarten: Sie alle lassen sich mit etwas Fantasie in der Inszenierung „Wunderland, wie nächtliche Schatten“ wiedererkennen, die am Sonnabend vor ausverkauftem Haus Premiere feierte.

Der Titel hatte die Verbindung zu Lewis Carrolls Buch aus dem Jahr 1871 zwar nahegelegt, aber das Gerhart-Hauptmann-Theater hielt sich in seiner Ankündigung der Inszenierung sehr bedeckt. Poetisch, jedoch unverbindlich war von den Grenzen zwischen Fantasie und Wirklichkeit die Rede, von der Freiheit der Gedanken, dem Wahnsinn in der Banalität des Alltags, den Irrwegen des Gedächtnisses. Da schien die Auslegung weit. Tatsächlich ist „Wunderland“ von Dan Pelleg und Marko E. Weigert so nahe an der Vorlage, dass man eintauchen kann in die vertraute Carroll’sche Welt voller Sonderbarkeiten und zugleich staunen muss über die ideenreiche Umsetzung: über die ungewöhnlichen Motive, Assoziationsmöglichkeiten und Bewegungen. Über die ganz verschiedenen Arten von Tanz, die mal sanft und anmutig, mal leidenschaftlich, mal roboterhaft, mal akrobatisch in ihren Bann ziehen. Die inspirierte Musikauswahl von Dan Pelleg führt von sphärischen Chören über technische Rhythmen, orientalische Klänge, den hellen Glockentönen eines Wiegenliedes bis zu einer Adaption der „Sweet dreams“ von Annie Lennox. Die Tänzer singen diesmal sogar selbst, unter anderem als mehrstimmiger a-capella-Chor.

Die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit ist immer Thema auf der Bühne, genau wie bei Lewis Carrol auch. Der begleitet seine Alice in eine Welt, in der sich das Mädchen immer wieder fragen muss, wer hier verrückt ist: sie oder die anderen? Alice folgt ihrer Neugier mit allen Konsequenzen, die ihren Körper manchmal unbequem verändern. Sie muss verwundert zuschauen, was mit ihr geschieht, sobald sie eigenständig handelt. Sie muss immer wieder rettende Gedanken finden, erlebt aber auch, wie sich manche Probleme ganz von selber lösen. Vor allem erfährt sie, wie relativ ihr eigenes Erleben in einer Umgebung ist, die sie nicht beeinflussen kann.

Um all diese Dinge geht es auch im Tanzstück der Wee Dance Company. Dan Pelleg und Marko E. Weigert haben sich von der Carroll’schen Vorlage aber eher inspirieren lassen, als sie tänzerisch nachzuerzählen. Die Figur der Alice tritt dabei allein, zu zweit, zu dritt auf, in Bluse und Rock, in Hose und Weste. Meist stellen mehrere Tänzerinnen das Mädchen dar und eröffnen die Idee, dass jeder Einzelne mehr ist, als er scheint. Es gibt wunderbare Verwandlungen wie einen Tanz, in dem ein Unterhemd zur emotionalen Verbindung wird, zum Faden, der sich bis zum Zerreißen spannen kann. Es gibt eindrucksvolle Solo- und Duotänze, die das Stück weit über die Handlung im Wunderland hinaustragen und dem Zuschauer frei überlassen, wovon er dabei träumt.

Die Bühne von Britta Bremer erinnert zum Glück rein gar nicht an die Atmosphäre mancher kitschigen Verfilmung des Buches. Alice landet nach ihrer Verfolgung des Kaninchens in einem großgekachelten Raum, der jede Farbe annehmen kann, der später bis ins Unendliche zu reichen scheint und dessen Bodenkissen sich in Kartenhäuser verwandeln können. Je weiter die Geschichte voranschreitet, desto weiter wird der Raum. Bietet er anfangs eine Ecke, in die sich das verängstigte Kaninchen mit seinem Mantel aus weißen Handschuhen drängen kann, und ein Loch im Boden, aus dem die wunderlichsten Gestalten kriechen, öffnet er sich nach und nach.

Darin tanzen Wesen, mal in der Reihe und weiß maskiert, mal in bunter Freude und tollen Kostümen. Unter den Augen der Grinsekatze, die als Lampion frei im Raum schwebt, öffnet sich die Bühne weiter, die Fluchtlinien verwandeln sich zu Wellen, vielleicht ein Anklang an „Alice im Spiegelland“. Die Rückwand wird durchscheinend, bis die Teegesellschaft dahinter wie ein Gemälde wirkt. Die Illusion stellt die Größenverhältnisse auf den Kopf.

Ist da eine Grenze zwischen verrückt und nicht verrückt? Im Programmheft dreht die Company die Frage weiter mit Zitaten großer Künstler von van Gogh bis Michael Ende. Neben Lewis Carroll findet sich auch der Dichter Ringelnatz dort: „Überall ist Wunderland. Überall ist Leben.“

Wiederaufführung: 1. und 9. Februar, 19.30 Uhr; 10. Februar, 15 Uhr; 22. März, 19.30 Uhr; 14. April, 19 Uhr; Kartentelefon 03581 474747

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