Merken

20 Jahre jung

Ost oder West? Das ist für uns keine Kategorie, sagen die zwei von Seite 1. Ein Doppelporträt der Generation Einheit.

Teilen
Folgen
NEU!

Von Lars Radau

Als Claudia Flach in einem Dresdner Krankenhaus das Licht der Welt erblickt, hat der Staat, in den sie hineingeboren wird, nur noch etwas mehr als zwölf Stunden zu leben. Das reicht immerhin, um dem Mädchen noch einen dunkelroten DDR-Impfausweis auszustellen. „Das dürfte einer der letzten gewesen sein“, sagt die junge Frau und schmunzelt. Wirklich wichtig ist dieses Detail für die zierliche dunkelhaarige junge Frau, die heute so alt wird wie die wiedervereinigte Republik morgen, auch nicht. Überhaupt, betont die 20-Jährige, sei die Frage, ob jemand aus dem Osten oder dem Westen kommt, in ihrer Generation „keine Kategorie“ mehr. Dass sie ihr Studium in diesem Wintersemester indes doch in Sachsen beginnt, hat „rein pragmatische Gründe“. Denn allzu weit weg von zu Hause sollte die Uni nicht sein. Schließlich könne das Bachelor-Studium der Arabistik in Leipzig, für das am Montag die Einführungsveranstaltungen beginnt, ja auch schiefgehen. „Wenn mir danach aber ein toller Masterstudiengang in Heidelberg begegnet – warum sollte ich dann nicht nach Heidelberg gehen?“

Diese rhetorische Frage stellt sich für Achim Hofmann nicht mehr. Der 20-Jährige pendelt seit einem Jahr alle zwei Wochen über 400 Kilometer zwischen dem fränkischen Forchheim und Zittau, wo er studiert. Die Entscheidung, in den südöstlichsten Zipfel Sachsens zu gehen, beschreibt der schlaksige Franke ebenfalls als „pragmatisch“: Er absolviert beim französischen Atomkonzern Areva, dessen deutsche Tochter in Erlangen sitzt, ein „Kooperatives Studium mit integrierter Ausbildung“. Nach fünf Jahren ist Achim damit Diplom-Ingenieur für Maschinenbau und zugleich Industriemechaniker. Der praktische Teil findet an den verschiedenen Standorten des Konzerns statt, für das Studium ist die Hochschule Zittau/Görlitz Partner von Areva. Zum einen, sagt Achim, habe ihn das Konzept der Ausbildung überzeugt. Zum anderen böten sich anschließend sowohl spannende als auch sichere Job-Perspektiven. Also, findet Achim, sei der Studienort eher zweitrangig. Wie auch prinzipiell die Frage nach Ost oder West, schiebt er schnell hinterher. Immerhin habe es von 100 Leuten im Abi-Jahrgang seines Bamberger Gymnasiums ein gutes Drittel zum Studium in Richtung Osten gezogen.

Beim gemeinsamen Kaffeeplausch in einem Dresdner Café stellt sich aber doch heraus, dass es auch in der Generation von Achim und Claudia noch immer um mehr geht als nur regionale Unterschiede. Auf die Frage, ob es Vorurteile gebe und welche, sind ein paar Klischees schnell zur Hand: dass die ostdeutschen Jugendlichen ausländerfeindlicher wären als ihre West-Pendants zum Beispiel. Oder dass Ostdeutsche oft rumjammerten. Oder dass Frauen im Osten im Schnitt früher und mehr Kinder bekämen als die im Westen. Was Achim und Claudia von diesen Stereotypen halten, machen ihre hochgezogenen Augenbrauen deutlich. Sie kennen die jeweils andere Seite inzwischen gut genug. Bis zum Studium arbeitete Claudia längere Zeit als Redakteurin für die aus einer Dresdner Schülerzeitung hervorgegangene bundesweite Jugendzeitschrift „Spiesser“. Der Job führte Claudia auch auf Dienstreisen gen Westen.

Gegen Klischees, sind sich Achim und Claudia einig, hilft am ehesten der persönliche Kontakt. „Viele Leute labern ja nur und haben keine eigenen Eindrücke“, sagt Achim. Natürlich sei auch er mit einer gewissen Gespanntheit zum ersten Mal nach Zittau gefahren – und war von der Hochschule positiv überrascht, über die Stadt eher erschrocken. „Man merkt schon, dass hier schon mal wesentlich mehr los war.“ Auf der anderen Seite bescherte das große Wohnungsangebot dem frischgebackenen Maschinenbau-Studenten die Möglichkeit, innerhalb kurzer Zeit mit vier Areva-Arbeitskollegen eine Wohngemeinschaft aufzumachen – in einer sanierten 200-Quadratmeter-Altbauwohnung. Mit diesem Domizil, sagt Achim, fühle er sich viel eher verbunden als mit der Stadt. Das liege aber auch daran, dass er mit den Kollegen bereits die Einführungswochen in der Firma verbracht habe. „Da bleibt man eben eher gemütlich zu Hause und trinkt ein Bier zusammen, als noch rauszugehen.“ Ganz abgesehen davon, dass das Arbeits- und Lernpensum recht anspruchsvoll ausfalle.

Immerhin: Zwei, drei nette Kneipen, sagt Achim, haben seine Mitbewohner und er schon aufgetan. Dort treffe man auch Kommilitonen, „zumindest die, die nicht lieber sparen, als mal wegzugehen.“ Dieses Zusammenhalten des Geldes, sagt Achim und grinst ein bisschen über sich selbst, habe er im ersten Moment für eine typisch ostdeutsche Angewohnheit gehalten. „Bis ich festgestellt habe, dass das bei meinen Freunden daheim nicht viel anders ist.“

Bis 2014 wird Achim in Zittau studieren. Wohin es ihn danach zieht, ist „relativ offen“. Fest steht für den Franken nur, dass es ihn mit dem Abschluss in der Tasche aus Sachsen wegziehen wird. Auch dafür sprächen „ganz pragmatische Argumente“, betont Achim: „Hier gibt es einfach keine Jobs.“ Der Konzern, der seinen Nachwuchs gern noch einige Jahre nach der Ausbildung an sich binden möchte, hat keine Standorte in Ostdeutschland.

Für Claudia heißt die Perspektive zunächst Leipzig, zumal sie sich gerade ihre erste eigene Wohnung eingerichtet hat. Ihr Fernziel macht sie weniger geographisch als inhaltlich fest: Die Dresdnerin will nach dem Studium im Journalismus arbeiten. Egal, ob im Osten oder im Westen.