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48 Stunden Meißen

Schreiben Sie’s jetzt auf, sagen die Kollegen von der Meißener SZ-Redaktion. Wenn Sie erst mal zwei Wochen hier sind, haben Sie sich ja schon an alles gewöhnt. Also: plötzlich Wessi, plötzlich Reporterin – eine Frankfurterin neu an der Elbe.

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Ist das hier vielleicht eine der schönsten Ecken von Meißen? Und einer der schönsten Blicke? So richtig viel hat Anne Buhrfeind noch nicht von der Stadt gesehen. Sie ist ja auch gerade erst angekommen.
Ist das hier vielleicht eine der schönsten Ecken von Meißen? Und einer der schönsten Blicke? So richtig viel hat Anne Buhrfeind noch nicht von der Stadt gesehen. Sie ist ja auch gerade erst angekommen. © Claudia Hübschmann

Von Anne Buhrfeind

Und wo bezahle ich jetzt? Gut, dass der Mann, der gerade seinen Einkauf abwickelt, mir diese Scannerkasse zum Selberscannen im Supermarkt geduldig erklärt. Ich wäre echt aufgeschmissen. Sowas habe ich in Frankfurt nur bei Ikea gesehen, und es ist irgendwie was anderes, ob man einen Couchtisch oder eine Packung Tee mit so einer Technik bearbeitet. Geht aber.

Meißen ist anders, tatsächlich. Und ein gefährliches Pflaster! Am zweiten Abend wäre ich fast von einer Dachlawine getroffen worden, die drei Meter vor mir auf die Burgstraße herunterbrach. Das wäre bestimmt nicht so schlimm ausgegangen und mein friedlicher Gang nach Hause war auch nicht annähernd so leichtsinnig wie die Schneemobilfahrt eines 67-Jährigen am Montag. „Tödlicher Unfall in Röhrsdorf“ stand am Dienstag in der Sächsischen Zeitung. Hätte da nicht lieber drüberstehen sollen „Mit selbstgebautem Schneemobil tödlich verunglückt“? Hätten vielleicht mehr Leser angeklickt und gelesen. Darüber diskutiert die Redaktion kurz am nächsten Morgen.

Auch deshalb, weil tags zuvor der neue Online-Auftritt das große Konferenzthema war, die erweiterten Möglichkeiten – und Schwierigkeiten – von Sächsische.de. Die Zukunft der Zeitung liegt im Netz, wo genau, ist noch nicht so ganz klar, ihre Gegenwart aber steht auf dem Papier. Im Moment müssen die Redakteurinnen und Redakteure beides produzieren, beides drauf haben. Ist doch ganz leicht? Naja: Wer die Papierzeitung vor sich liegen hat, erfasst mit einem Blick, wie lang der Text über den Schnee-Unfall ist, Stichwörter wie „Röhrsdorf“ und „selbstgebaut“ und „Schneemobil“ fallen sofort ins Auge. Im Internet muss man sich gut überlegen, was man in die ersten Zeilen schreibt, damit die Leserin neugierig wird auf mehr. Und weiterklickt. Und bezahlt! Andererseits ist das Internet schneller…

„Wir sind schneller“, sagt auch ein Kollege auf der Pressekonferenz im Rathaus, als er hört, dass ich aus Frankfurt bin. Und er meint nicht das Internet oder den Mann auf dem Schneemobil. Was er meint, darüber finde ich hoffentlich in den nächsten Wochen mehr heraus. Die Umbrüche, Abbrüche, Aufbrüche gehen schneller, die politischen Veränderungen, das Zuspitzen, vielleicht das Lösungen-Finden auch. Hier wird jedenfalls viel probiert. Was man so mitkriegt, wenn man 48 Stunden in der Stadt (und einige davon in der Lokalzeitungsredaktion) ist: Meißen beteiligt Bürger bei der Stadtentwicklung, ja, tun westdeutsche Kleinstädte auch, aber nach meinem Eindruck nicht so viele wie im Osten. Die Sächsische Zeitung macht Lesewertforschung, ja, sowas machen westdeutsche Zeitungen ähnlich, auch gern mit einer Technik, die in Dresden entwickelt wurde. In der Meißner Altstadt stehen viele Geschäfte leer, ebenso wie in meiner Herkunftsstadt an der Unterelbe, aber hier gibt es „Startschuss“, den Ideen- und Existenzgründerwettbewerb. Und hier müssen hartnäckige, engagierte Bürger versuchen, die AfD aus der Stadtpolitik herauszuhalten – halt! Da wären die Meißner nicht die ersten, in hessischen Kommunalparlamenten gibts das schon.

Ganz schön schnell und picobello sauber ist die S-Bahn zwischen Dresden und Meißen, und von zwei mitreisenden Mädchen erfahre ich, wie schnell man Labels verteilen kann. „Es gibt Nazis, es gibt Linke, und es gibt Zecken, das ist noch mal was ganz anderes.“ Zecken? Jedenfalls, wer gelabelt ist, ist sofort angreifbar. Wer zum Beispiel unter dem Label „Vegetarierin“ lebt und dann was Falsches isst, könnte dann das Label „Abschaum“ bekommen. Sagen die. Kompliziertes Leben!

Zügig einordnen, bewerten, abwerten – ob das jetzt typisch Meißen oder typisch Osten ist oder typisch Gegenwart überhaupt? Klar, machen alle, lernt man in den sozialen Netzwerken, liken, haten und wenig dazwischen.

Ich will mir Zeit lassen. Aber. Erste Eindrücke sind erste Eindrücke, da fällt eben was auf. Ich war zum Vorlesen in einer Kindertagesstätte, lustige Kinder. Sie fanden, dass ich schon von sehr weit her käme, aber einer ihrer Freunde, der sei gerade noch viel weiter weg, auf der anderen Seite der Welt! Neuseeland. Nun, von anderen Teilen der Welt ziehen offenbar nicht viele Menschen nach Meißen, die Stadt hier ist nicht nur gerade schneeweiß, auch die Menschen auf der Straße, in der Bahn, im Bus sind ziemlich blass. Sehr ungewohnt für die Frankfurterin, die schon an der Schlange beim Rewe drei Sprachen hört und abends im Restaurant chinesische Banker, ghanaische Tellerwäscher, ach, das kann man so gar nicht sagen. Egal, mit wem man redet, an wem man vorbeiläuft, jedem Dritten sieht man an, dass er oder sie oder die Eltern von woanders kommen. Kaum erwähne ich das beim Mittagessen, werde ich sanft gemahnt: Jetzt aber nicht Helikoptern! Apropos Essen: Hat der Inder in der Altstadt einen Tisch für mich? „Nu“, sagt er. Wie jeder Sachse.

Helikoptern ist nicht mein Plan. Man guckt halt. In der Redaktion geht inzwischen die Tagesarbeit voran. Müllentsorgerstreit, Jugendbauherrenpreis, Windräder, das Gastrobewertungsportal. Und die gefährliche Kurve, die ich noch nicht kenne, das könnten die Themen für die nächste Ausgabe sein. Woher wissen die Kollegen, was die Leser interessiert? Sie testen es, wie gesagt, jeder Reporter weiß, wieviele von 100 Meißner Lesern gestern auf seinen Text geschaut und wieder weggeschaut oder ihn gelesen haben. Die Redaktion weiß: Die bunten Seiten werden mehr gelesen als die politischen, die lokalen deutlich mehr als das Feuilleton. Trotzdem werden natürlich Konzertkritiken geschrieben. Aber der Wolf ist – überall im Land – interessanter als die Dresdner Philharmoniker. Der Waschbär ist ein Klickbringer. Die DDR funktioniert auch noch. So als Thema. Weiß der Lokalchef.

In seinem Büro liegt ein Buch über Suaheli-Grammatik. Der Stadt-Meißen-Reporter interessiert sich für den Philosophen Giorgio Agamben und empfiehlt mir, in der Bibliothek der Evangelischen Akademie nach der blauen Gesamtausgabe von Paul Tillich zu gucken. Nach ersten Eindrücken kommen zweite.

Langsam wird jetzt der Himmel blass, dann rosa, Feierabend. Tageszeitung ist definitiv ein schnelleres Geschäft als der Magazin-Journalismus, obwohl auch der Arbeit macht, wie die sächsische Kollegin gerade in Frankfurt lernt. Ich will jetzt los. Zurück durch die Altstadt, aus der sich der Schneezauber schon langsam zurückzieht, die Türme bewundern, in die Gassen lugen, für die ich noch keine Zeit hatte, neugierig in die Schaufenster an der Burgstraße gucken, über das Kopfsteinpflaster stolpern, den Hohlweg hoch bis zu meiner prächtigen Unterkunft, der Evangelischen Akademie.

So nahe an einer Kirche habe ich noch nie gewohnt. Direkt neben der Turmuhr. Schönes Meißen…

Den Blog finden Sie hier 

Dominique Bielmeier schreibt aus Frankfurt, Anne Buhrfeind aus Meißen, drei Wochen lang. Ihren Blog lesen Sie auf sächsische.de
Dominique Bielmeier schreibt aus Frankfurt, Anne Buhrfeind aus Meißen, drei Wochen lang. Ihren Blog lesen Sie auf sächsische.de © SZ-Grafik

... und die Elblandreporterin in Frankfurt

Schreibtischtausch: Während sich Dominique Bielmeier im Frankfurter Großstadtverkehr vor aggressiven SUV-Fahrern in Acht nehmen und beim evangelischen Magazin chrismon Kommentare schreiben soll, sitzt eine chrismon-Redakteurin an ihrem Schreibtisch in Meißen.

Anne Buhrfeind, an der Elbe bei Hamburg aufgewachsen, ist früher schon mal Lokalreporterin gewesen – beim Stader Tageblatt.

Später arbeitete sie beim Börsenblatt für den deutschen Buchhandel in Frankfurt, war stellvertretende Chefredakteurin bei der Zeitschrift Gala in Hamburg und ist heute in gleicher Funktion bei chrismon.

Das Magazin liegt monatlich verschiedenen großen Tageszeitungen, auch der Sächsischen, und der Wochenzeitung Die Zeit bei, Auflage: 1,6 Millionen.

Die beiden Journalistinnen haben für drei Wochen getauscht und erzählen von ihren Erfahrungen in einem Blog.

>>>> www.chrismon.de

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