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"Aber vergessen kann ich nie"

Die Auschwitz-Überlebende Ewa K. aus Polen hat lange über ihr Leben geschwiegen. Sie fürchtet ihre Peiniger bis heute. Hinzugekommen ist Angst vor den Russen.

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Weibliche Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz werden zum Arbeitseinsatz abtransportiert. Ewa K. hat diese Zeit mit viel Glück und Hilfe überlebt.
Weibliche Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz werden zum Arbeitseinsatz abtransportiert. Ewa K. hat diese Zeit mit viel Glück und Hilfe überlebt. © dpa

Von Paul Flückiger, SZ-Korrespondent in Warschau

Ewa K. empfängt in ihrer Wohnung „Unter den Linden“. Aufzug S, zweite Etage. Ihren richtigen Namen will sie nicht in der Zeitung lesen. Zu tief sitzt die Angst vor Verfolgung – und dies 73 Jahre nach der Befreiung Polens von der nationalsozialistischen Besetzung. Ewa K. ist eine der Letzten, die noch berichten können, was sie im Todeslager Auschwitz am eigenen Leib erleben mussten. „Ich habe den Gestank der Leichenberge noch heute in der Nase, den Rauch der Krematorien“, sagt sie und beginnt zu weinen. Sie sitzt gekrümmt da, auf dem alten Schlafsofa im engen Wohnzimmer ihrer Blockwohnung aus sozialistischer Zeit, die Beine bandagiert, ein herzliches Gesicht, rege Augen. Bald wird sie 90 Jahre alt. Der Herrgott meine es gut mit ihr, sagt die gläubige Katholikin.

Ewa K. wuchs mit vier Geschwistern am Stadtrand von Krakau auf, der Hauptstadt des Generalgouvernements, das seit dem deutschen Überfall auf Polen mit brutaler Hand geführt wurde. Dieses erstreckte sich von Warschau über Krakau bis Ternopil in der heutigen Ukraine. Der Vater, ihre beiden Brüder und die älteste Schwester waren bei den Partisanen der polnischen Untergrundarmee Armia Krajowa (AK), die gegen die Nazis kämpfte. Die Familie bot den Untergrundkämpfern in ihrem Haus am Waldrand einen Rückzugsraum. „So war das üblich bei uns, auch Nachbarn halfen dabei mit“, erklärt Ewa K. stolz.

Ihre Mutter versteckte kurze Zeit eine von den Deutschen gesuchte jüdische Bekannte auf dem Dachboden. „Abends sang sie mit uns Lieder“, erzählt Ewa K. und beginnt mit dunkler Stimme, eines anzustimmen. Nach einigen Tagen zog die Jüdin weiter, aus Angst, entdeckt zu werden. Das sei das letzte Mal gewesen, dass sie das Mädchen gesehen habe. Angst musste die Jüdin indes auch vor polnischen Nachbarn haben, denn es kam immer wieder zu Verrat und gar Kollaboration mit den Deutschen. In den Großstädten machten sogenannte Szmalcownik-Banden Jagd auf Juden.

Folter im Gefängnis

Die Untersuchung des polnischen Historikers Jan Grabowski zu solchen Banden in Warschau 1940 bis 1943 hat ergeben, dass ihnen zu zwei Dritteln Polen angehörten. Die restlichen Mitglieder waren Deutsche und ethnische Minderheiten, unter ihnen auch einige Juden. Laut Grabowski wurden die meisten Juden, die sich aus den Ghettos retten konnten, von Polen an die Deutschen verraten. Ewa K. verschweigt auch eine Besonderheit, auf welche die Polen gerne pochen: Wer im Generalgouvernement Juden Unterschlupf gewährte, riskierte seit dem Herbst 1941 nicht nur das eigene Leben, sondern auch das der Familie. In anderen Besatzungsgebieten Polens galt diese Sippenhaft nicht. 

Die Deutschen hatten Polen im Herbst 1939 zuerst gemäß den Zusatzprotokollen des Ribbentrop-Molotow-Pakts mit der Sowjetunion aufgeteilt. Die deutschen Besatzungsgebiete wurden sodann in fünf Zonen unterteilt. Die größte war das Generalgouvernement, wohin ursprünglich alle Polen und Juden aus den restlichen vier Gebieten ausgesiedelt werden sollten. Im Osten grenzte dieses zentrale Gebiet an die sowjetische Zone. Ostpolen wurde von den Deutschen erst nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 besetzt.

Im Spätherbst 1941 umstellten deutsche Einheiten Ewas Elternhaus. Alle Familienmitglieder wurden in das berüchtigte Gestapo-Gefängnis an der Montelupich-Straße eingeliefert. Dort wurde Ewa gefoltert. Die Gestapo interessierte sich für Namen von AK-Partisanen; von der versteckten Jüdin wusste sie offenbar nichts. Verraten wurde die Familie wegen ihrer Unterstützung der Partisanen. Die Folterungen verursachen bei Ewa K. bis heute schlimme Kopfschmerzen. Im Montelupich-Gefängnis hat die damals 13-Jährige auch ihre Mutter zum letzten Mal gesehen. „Eine Wärterin kam und sagte mir, ich könne mich nun von Mama verabschieden“, erzählt sie. Tränen steigen ihr in die Augen.

Zusammen mit ihrer Schwester wurde Ewa ins KZ Auschwitz-Birkenau gebracht. Sie kam in die Strickstube und fertigte Socken für die deutschen Soldaten an der Ostfront. „Arbeit macht frei“, sagt sie bitter, krempelt dann ihren linken Ärmel hoch und zeigt ihre Nummer. Sie beginnt mit den Ziffern 6 und 0. Ewa K. kann kein Deutsch, doch ihre Nummer kann sie noch heute ohne Akzent herunterleiern.

15 Millimeter große Läuse

„Von der Strickstube aus sah ich das Krematorium, dort haben sie alle hineingeworfen, Juden, Polen, Gefangene aus ganz Europa, das Leben zählte nichts“, so erinnert sich Ewa K., die bisher öffentlich noch nie über ihre Zeit im Frauenlager gesprochen hat. Ihr Sohn, der dem Gespräch beiwohnt, wirft ein, in seiner Kindheit sei zu Hause kaum über Auschwitz gesprochen worden. Dann kramt er Akten aus einem Schrank. Der Ordner quillt über von Suchanfragen an den Internationalen Suchdienst für Familienangehörige von Opfern der Nationalsozialisten in Bad Arolsen – und von abschlägigen Antworten. Über 60 Jahre lang hat Ewa K. vergebens ihre beiden Brüder und die älteste Schwester Roza gesucht. Einzig eine Todesanzeige ihres Vaters aus Auschwitz hat sie. Er starb angeblich an Herzversagen.

Überlebt habe sie dank ihrer viel stärkeren Schwester und zwei Lehrerinnen aus der Nähe von Posen, die sich um sie gekümmert hätten, erzählt Ewa K. „Wir lagen zu zehnt auf der Pritsche, schliefen seitlich und konnten uns nur zusammen umdrehen“, erzählt sie und weist auf ihr Schlafsofa in der Stube. „So groß war die Pritsche, aber viel härter.“ Dann zeigt sie mit ihren zittrigen Fingern, wie groß die Läuse in Auschwitz waren – 15 Millimeter. Solche Erinnerungen kommen ihr scheinbar regungslos über die Lippen.

Jeder fünfte Einwohner Polens in den Grenzen von 1939 fiel bis zum Kriegsende dem Naziterror zum Opfer. Dieser hohe Blutzoll hat bereits in den Nachkriegsjahren einen Opfermythos befördert, der sich bis heute bedenklich resistent zeigt gegenüber Forschungsergebnissen über Kollaboration mit den deutschen Besatzern und dem Verrat jüdischer Einwohner.

Ewa K. ist keine Jüdin, doch sie hatte jüdische Mitgefangene. „Sie hatten ihre Baracken gleich neben uns, wir haben einander geliebt, und wir haben uns geholfen“, sagt sie. Aber natürlich habe es auch böswillige Lagerinsassen und vor allem Bewacherinnen gegeben. Das polnische Institut für Nationales Gedenken hat für das KZ Auschwitz-Birkenau vor zwei Jahren eine Liste mit 8 500 Namen veröffentlicht. Die meisten von ihnen waren Deutsche, allerdings wurden auch andere Nationen, unter ihnen auch Polen, als Kapos eingesetzt.

Todesmarsch ins KZ

Die Essensausgabe sei oft zu einem Kampf ausgeartet. Auch ihre Schwester sei manchmal mit einem leeren Napf in der Baracke angekommen. Das Lagerleben habe die niedrigsten Instinkte gefördert. „Wer nicht mehr weiterkonnte, wurde erschossen; für die Deutschen waren wir Nummern, wie Vieh“, erzählt sie. Im Sommer 1944 zwangen sie die Deutschen auf einen Todesmarsch ins KZ Ravensbrück. „Die Hälfte von uns überlebte den Marsch nicht“, erinnert sich Ewa K.

Nach Kriegsende holte sie ihre Schulbildung in Bayern nach, reiste nach Krakau zurück und zog bald darauf nach Posen um. „Meine Familie war tot oder verschollen, Verwandte und Freunde ebenfalls. In Krakau zu leben, das war zu traurig.“

Im von den Sowjets besetzen Polen musste sie bald erleben, dass sie als Angehörige einer Familie, welche die polnische Untergrundarmee unterstützt hatte, stigmatisiert wurde. Die AK-Untergrundkämpfer waren für die Kommunisten die falschen Partisanen, weil sie im Namen der polnischen Nation und nicht des Sozialismus gekämpft hatten. Viele von ihnen wanderten aus den Wäldern direkt in stalinistische Gefängnisse. Hunderte wurden hingerichtet.

Die Erfahrung, gerade wegen ihres KZ-Überlebens in Polen verfolgt worden zu sein, verunsichert die 89-Jährige bis heute. „Bitte keine Fotos, keinen Namen, keine genauen Daten! Wer weiss, wann die Russen zurückkommen?!“, fleht sie.

Auch den Deutschen gegenüber hegt sie ambivalente Gefühle. In den siebziger Jahren begann Ewa K., ihren kargen Verdienst mit Saisonarbeit in süddeutschen Weinbergen aufzubessern. „Meine Auschwitz-Nummer klebte ich mit Pflaster ab“, erzählt sie emotionslos. Die Weinbauern seien anständige Leute gewesen, das habe sie etwas zum Umdenken bewogen. „Es gibt auch gute Deutsche. Aber vergessen kann ich nie, was einmal war“, sagt sie.