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Die Forscher bringen Ordnung ins vermeintliche Chaos

Die Welt ist mobil – doch überall unterschiedlich. Welche Folgen das für Mensch und Umwelt hat und welche Schlüsse sich ziehen lassen, fragt eine neue internationale Forschungsgruppe an der Technischen Universität Dresden.

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Lavina Karva, Surendra Kancharla, Rushikesh Amrutsamanvar, Moeid Qurashi, S. Travis Waller und Katrin Glöckner (v.l.n.r.) bringen viele verschiedene Perspektiven in ihre neue Gruppe ein.
Lavina Karva, Surendra Kancharla, Rushikesh Amrutsamanvar, Moeid Qurashi, S. Travis Waller und Katrin Glöckner (v.l.n.r.) bringen viele verschiedene Perspektiven in ihre neue Gruppe ein. © Thorsten Eckert

Reisende in Bussen, Fahrgäste in Zügen, Passagiere in Flugzeugen, kleine Kinder auf dem Autorücksitz, große Container auf riesigen Frachtern oder Pakete im Laderaum eines Lkw: Transport passiert in jeder Sekunde überall auf der Welt. Der Mensch ist Meister im Bewegen von allem. Die Frage, wie und womit wir mobil sind, ist eng verbunden mit sozialen, wirtschaftlichen und auch umweltrelevanten Aspekten. Wie Verkehr in Hinblick auf diese Punkte in Zukunft funktionieren kann, soll im Potenzialbereich „Automatisierte und vernetzte Mobilität“ der TU Dresden erforscht werden. Dafür wurde in diesem Jahr bereits die Exzellenzprofessur „Verkehrssystemmodellierung“ an der Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“ besetzt – mit einem Amerikaner aus Australien.

Diese Frage hat er kommen sehen. „Die musste ich in letzter Zeit schon häufiger beantworten“, sagt S. Travis Waller mit einem Lächeln. Der Größenunterschied ist aber auch alles andere als marginal. Über fünf Millionen Einwohner leben in der australischen Stadt Sidney, in Dresden nur knapp 560.000. Seit 2011 war er Professor an der Universität von New South Wales in Sydney und zuletzt Leiter der dortigen Fakultät für Bau- und Umweltingenieurwissenschaften. Von der Weltmetropole in die sächsische Landeshauptstadt: Warum forscht er jetzt in Dresden?

„Zum einen ist Dresden eine wunderschöne und lebenswerte Stadt mitten in Europa“, sagt er. Ausschlaggebend für den Wechsel war aber sein neuer Arbeitsort; die Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“. Die ist nämlich etwas Besonderes, sagt der Forscher. „Hier wird mit der Perspektive ganz unterschiedlicher Fachrichtungen auf das Thema Verkehr geschaut.“ Dieser Rundumblick reizt ihn. „Auch für meine Arbeit wird diese interdisziplinäre Umgebung sehr wertvoll sein.“

Vom Puzzle zum Transport als mathematisches System

Schon als Kind faszinierten S. Travis Waller Puzzles. „Letztlich war es wohl die Begeisterung für komplexe Gebilde und die Klärung der Frage, wie alles miteinander zusammenhängt“, interpretiert er diese Leidenschaft heute. Aufgewachsen ist er in einer Kleinstadt, in Ironton im Bundesstaat Ohio.

„Im Vergleich dazu war Ohio, wo ich später an der Universität studierte, wie Metropolis für mich.“ Erst macht er einen Abschluss in Elektrotechnik, später einen Master und die Promotion im Fachgebiet Wirtschaftsingenieurwesen und Management. Während seiner Studienzeit wird er wissenschaftlicher Mitarbeiter an einer Professur. „Mein Vater war gestorben, als ich 20 war“, erzählt er. „Der Professor, für den ich arbeitete, wurde so etwas wie ein zweiter Vater für mich.“

Waller beeindruckt damals, mit welchem Thema dieser sich beschäftigt – mit Transport als mathematisches System, in dem sich Menschen bewegen. „Ich wusste, dass das etwas ist, mit dem ich mich auch beschäftigen möchte.“ Heute ist er weltweit einer der führenden Forscher im Bereich der Simulation und Modellierung von Verkehrssystemen. Seine Ergebnisse sind wichtige Grundlage für die Planung und Ausgestaltung von Infrastruktur und Mobilität.

Internationales Team mit vielen Perspektiven

Straßenverkehr in Indien funktioniert anders als in Dresden. Wie können Computermodelle trotzdem wichtige Aussagen zu Städten weltweit treffen?
Straßenverkehr in Indien funktioniert anders als in Dresden. Wie können Computermodelle trotzdem wichtige Aussagen zu Städten weltweit treffen? © 123rf.com

In seinen Modellen geht es ihm aber nicht nur um Transportwege oder Reisezeiten. Der Mensch ist für den Wissenschaftler eine wichtige Größe im System – die bisher noch viel zu wenig Berücksichtigung findet. „Mobilität hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt und wird das auch künftig tun.“ Mit einer zunehmenden Digitalisierung und Automatisierung verändern sich für den Menschen wichtige Parameter. „Bisher ging es immer darum, Transport effizienter zu machen“, erläutert er. Nun müssten wir viel mehr auf die schauen, die ihn nutzen. „Andernfalls wird der Mensch nicht in diesem System leben wollen.“

An der TUD baut der Amerikaner gerade seine Professur und die neue Forschungsgruppe auf. Sieben Leute sind sie aktuell. Die Bauingenieurin und angehende Verkehrswirtin Lavina Karva aus Indien ist eine von ihnen. „Jeder von uns bringt natürlich eine eigene Sicht auf das Thema Transport mit in diese Gruppe“, sagt sie. In ihrem Heimatland beispielsweise sei der öffentliche Nahverkehr eher weniger nachgefragt. „Vieles passiert privat mit Auto oder Fahrrad.“ Das bestätigt auch Moeid Qurashi aus Pakistan.

„Die Verkehrsinfrastruktur in Deutschland ist eine ganz andere als in meinem Heimatland. Hier läuft alles sehr geordnet ab, bei uns ab und an auch etwas chaotisch.“ Aus diesem Blickwinkel heraus sei es spannend, wie sich mittels Computermodellen Aussagen über das Verkehrsmanagement in ganz unterschiedlichen Regionen der Erde treffen ließen.

Mobilität als wichtige Ressource für unsere Welt

Mit Hilfe neuer technischer Lösungen und Modellierungen will die Gruppe gemeinsam mit weiteren Wissenschaftlern innerhalb und außerhalb der TU Dresden Methoden entwickeln, die in Zukunft neue Aussagen über Verkehrssysteme ermöglich: Wie gerecht und fair sind sie? Wie beeinflussen sie die Umwelt? Welche ethischen Auswirkungen haben sie? Die Forscher haben ein großes Ziel, sagt Waller: „Wir wollen mit unseren Tools tagesaktuelle Modelle für jede Stadt in der Welt erstellen können.“

Gerade haben sie das Verkehrssystem der Ukraine modelliert, ab Kriegsbeginn Ende Februar . Ein Novum sei das, macht der Professor deutlich. „Bisher gab es Studien darüber, wie Erdbeben, Überschwemmungen oder auch die Pandemie den Transport beeinflussen.“ Dabei sei es wichtig, zu wissen, welchen Einfluss solche sozialen Krisen haben. Welche Zerstörungen gibt es? Wie ändert sich das Mobilitätsverhalten der Menschen? Ihre Algorithmen füttern die Forscher dafür unter anderem mit Mobilfunkdaten aus der Ukraine. „Momentan ist unser Schwerpunkt, die aktuelle Situation abzubilden.“ Für die Zukunft könnten solche Ergebnisse dabei helfen einzuschätzen, wie Systeme in ähnlichen Situationen resilienter werden können. „Auch für die humanitäre Hilfe oder die Logistik sind solche Informationen wertvoll.“

Travis Waller ist davon überzeugt, dass die Mobilität mitten im Wandel steckt. Früher war sie ein Produkt; die Menschen kauften Fahrräder oder Autos. Heute sei sie immer mehr Service, weil Menschen öffentliche Verkehrsmittel nutzen. „In Zukunft wird sie zu einer wichtigen Ressource werden.“ Diesen Prozess wollen die Forscher begleiten. Von Dresden aus – mit Blick auf die ganze Welt.

Exzellenzprofessur Verkehrssystemmodellierung der TUD