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Geheimnisvoll und begehrt

„Das Schokoladenmädchen“ gehört zu den Schätzen der Dresdner Gemäldesammlung. Nun hängt das Gemälde an einem neuen Platz - und kann aus nächster Nähe betrachtet werden.

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© Sebastian Kahnert/dpa

Simona Block

Dresden. Einzigartig und begehrt: Niemand weiß, wer die Hausangestellte mit frisch gestärkter blütenweißer Schürze und rosa Seidenhaube ist, die der Schweizer Maler Jean-Étienne Liotard (1702-1789) um 1744 als Pastell auf Pergament bannte. Er hat das Geheimnis um sein berühmtes „Schokoladenmädchen“ mit ins Grab genommen. Umso mehr Märchen und Spekulationen ranken sich um das Porträt, das für die Meisterin des Genres, Rosalba Carriera, „das schönste Pastell, das man je gesehen hat“ war.

Auch das „Selbstbildnis in türkischer Tracht“ von Jean-Étienne Liotard ist in der Ausstellung vom 28. September 2018 bis 6. Januar 2019 mit mehr als 100 Pastellen, Ölgemälden, Zeichnungen und Grafiken zu sehen.
Auch das „Selbstbildnis in türkischer Tracht“ von Jean-Étienne Liotard ist in der Ausstellung vom 28. September 2018 bis 6. Januar 2019 mit mehr als 100 Pastellen, Ölgemälden, Zeichnungen und Grafiken zu sehen. © Sebastian Kahnert/dpa
Eine Goldemail-Taschenuhr mit Emaillemalerei von Amy und Jean-Pierre Huaud liegt in der Gemäldegalerie Alte Meister in der Ausstellung in einer Vitrine.
Eine Goldemail-Taschenuhr mit Emaillemalerei von Amy und Jean-Pierre Huaud liegt in der Gemäldegalerie Alte Meister in der Ausstellung in einer Vitrine. © Sebastian Kahnert/dpa

Seit fast drei Jahrhunderten befindet es sich in Dresden, als eines der berühmtesten Werke der Galerie Alte Meister im Semperbau am Zwinger - ein Muss für Kunstfreunde wie Touristen. Ihr Stammplatz: das Pastellkabinett. Ein junges Mädchen unter alten Männern, Adligen, Allegorien und Musen. „Eine Bedienstete auf künstlerischer Ebene, das macht die Faszination aus“, sagt Museumsdirektor Stephan Koja.

Liotard, der sich als „Maler der Wahrheit“ bezeichnete, malte die Dienerin nicht, wie er sie sah, erklärt Koja. „Er erhob sie zum Kunstwerk, nahm sie aus der Zeit.“ Das mache ihr Geheimnis aus. „Das Schokoladenmädchen steht nicht, es geht nicht, es ist einfach.“ Auch das „Brieflesende Mädchen“ von Vermeer, ein anderes Meisterwerk der Dresdner Sammlung, habe diese Aura.

Das Blatt, das sich König August III. einiges kosten ließ, hat der Künstler bei einem Aufenthalt in Wien um 1744 schnell gemalt und verkauft, sagt Kurator Roland Enke. „Es war nur etwa ein halbes Jahr in seinem Besitz.“ 1945 erwarb es der Kunsthändler Francesco Graf Algarotti. Der sächsische Kurfürst und polnische König bezahlte für die schöne Dienerin laut Quittung 120 Golddukaten. „Das war sehr teuer, für ein Porträt hat Carriera nur 30 bis 40 Dukaten verlangt.“

Es kam als „Stubenmädchen“ in die Residenz an der Elbe, erst Mitte des 19. Jahrhunderts rückt die Schokolade in den Vordergrund. „Der Fokus verschiebt sich vom dienenden Charakter auf den Genuss.“ Seit etwa 1860 heißt die Figur „Schokoladenmädchen“. Enke schätzt, dass Liotards Modell vielleicht noch minderjährig war, „14 bis 15 Jahre, wirklich ein Mädchen“. Wer den 42-Jährigen aber inspirierte, ist unbekannt. „Man weiß nicht, wer sie ist.“

Im 19. Jahrhundert gab es Versuche, ihr eine Geschichte zu geben, und eine Identität. Nichts davon lasse sich beweisen und „von Liotard selbst gibt es keine Aufzeichnungen zu dem Bild“. In Dresden fasziniert das einzigartige Werk sofort, als es 1747 öffentlich ausgestellt wird. „Ein Ganzkörperbild von einer Dienerin, man könnte fast von einem Tabubruch sprechen“, sagt Enke. Es sei auch größer als die meisten Pastelle, habe einen dunklen Hintergrund, um die Gesichter heller strahlen zu lassen und zeige die Figur im Profil.

Ablesbar ist die Bedeutung auch an der Rezeption, die erste Kopie wurde schon elf Jahre nach dem Ankauf gefertigt. Im 18. Jahrhundert folgten Abbilder in Pastell und Öl. Nachweisbar sind laut Enke heute allein etwa 30 bis 40 in Auktionskatalogen. Auch in der Dresdner Galerie arbeiteten Kopisten. „Es gehörte zum Beruf von Künstlern, die ihre Arbeiten dann auch verkauft haben.“

Liotards Pastell war dabei so begehrt wie Rembrandt-Motive, Raffaels „Sixtinische Madonna“ oder Tizians „Zinsgroschen“. Ein Kopistenbuch der Galerie verzeichnet zwischen 1912 bis 1930 laut Enke allein gut 30 Künstler. Dazu kamen Dutzende Abbilder - Radierung, Kupferstich, Lithografie, Stahlstich und Fotografie zeugten von Prominenz und Popularität des „Schokoladenmädchens“.

„Dieses Blatt ist wie eine Reflexion über die Anmut eines jungen Menschen, herausgelöst aus dem sozialen Kontext“, sagt Museumschef Koja. Schokolade sei damals sehr kostbar gewesen, wurde in luxuriösen Gefäßen und nur von hübschen Mädchen serviert. „Das war Teil des Erlebnisses.“ Liotard habe diese Anmut und Grazie, den „menschlichen Adel“ festgehalten. Es machte das „Schokoladenmädchen“ so populär wie die Engel der Sixtina.

Der Schriftsteller Josef Kraszewski berichtete in der Mitte des 19. Jahrhunderts süffisant von 50 000 Reproduktionen, die jedes Jahr entstünden. „Jede ältere Dame, die im Kaffeehaus bediente, schlüpfte in so eine Tracht“, sagt Enke. Im 21. Jahrhundert nun führt eine lebende Kopie Gäste durch die historische Altstadt und sogar die Gemäldegalerie, in der Porzellanmanufaktur Meissen verkostet ein „Schokoladenmädchen“ gar Schokolade mit Gästen.

Liotards reizende Dienerin hing als Kunstdruck in Schlafzimmern und an der Wand des Cafés in der „Lindenstraße“. Sie wurde in Zinn gegossen, geklöppelt, auf Kakaodosen, Windlichter, Bilderbögen geklebt, ihre Popularität muss auf für Absurdes herhalten. „Sie trug schon ein Amazon-Paket und gerade erst Sachsens Balkonpflanze 2018“, berichtet Enke. Auf Briefmarken reist das „Schokoladenmädchen“ um die Welt - das Original indes wird nie ausgeliehen. Und sie war noch nie im Depot, „dazu ist das Bild zu begehrt“. (dpa)