Von Miriam Schönbach
Bautzen. Still glitzert der Stausee in der Vormittagssonne. Nur vereinzelt haben sich Besucher nach dem Gewitter der Nacht an diesem schwül-warmen Tag an das Wasser verirrt. Der Quatitzer Kirchturm steckt seine Spitze in dunkel-aufgetürmte Wolkenberge. Auf den sanften Wellen treibt dösend ein Kormoran. Schwalben üben den Tiefflug. In der Ferne ragt die sogenannte Vogelinsel aus dem Wasser. Doch durch das Absenken des Stauspiegels der Talsperre gibt das Eiland mehr preis als sonst. Alte Mauerreste des untergegangenen Dorfs Malsitz kommen zum Vorschein.
Die Bilder vom aufgetauchten Dorf
Mit dem Tretboot ist Bautzens Vineta am besten zu erreichen. Platschend und mit Muskelantrieb geht es einen knappen Kilometer vom Strand an der Ocean Beach Bar quer über den See. Nur der knatternde Hubschrauber unterbricht die Idylle mit glucksendem Wasser. Kurz vor dem Ziel heißt es, sich vorsichtig an Land zu manövrieren. Denn noch nicht alle zurückgebliebenen Steine sind auf den ersten Blick unter der Oberfläche zu erkennen. Rund 4,30 Meter hat sich das Wasser in der Höhe bereits zurückgezogen. Schon in dieser Woche werden vorbereitenden Arbeiten für die Sanierung der Dämme beginnen. An beiden Mauern sollen die Asphaltdichtungen neu versiegelt.
Mit einem sanften Ruck strandet das Tretboot auf einer Sandbank. Schnell ist das Gefährt an Land gezogen. Am neu entstandenen Ufer der Vogelinsel liegen unzählige schwarze, kleine Flussmuscheln. Zwischen ihnen türmen sich Granitbrocken auf, ein paar Ziegelsteinreste sind zu sehen. Am weitesten ragen zwei viereckige Restpfeiler aus dem harten Lausitzer Gestein aus dem Wasser. Darauf sind noch Befestigungsvorrichtungen zu sehen. In manchen der größeren, zum Wall aufgetürmten Granitblöcke sind Löcher gebohrt. Hier liegt der ehemalige Steinbruch von Malsitz.
Das Dorf vor den Stadttoren Bautzens wird erstmals 1222 als Malsnitz erwähnt. Seine wechselvolle Geschichte reicht indes weit zurück. An den einstigen Ufern der Spree fanden sich Siedlungsreste aus der Bronze- und Eisenzeit. Darüber hinaus gibt es Funde aus dem 11. und 12. Jahrhundert. Ursprünglich gehörte Malsitz wohl dem Burggrafen von Bautzen. Danach erwarb den Flecken der Herr von Baruth, bekannt als Bischof Bruno II. von Meißen.
„Alleen und reizende Ufer“
Es folgen als Eigentümer so bekannte Namen aus dem Oberlausitzer Adel wie Ulrich Wenzel von Bieberstein, der Radiborer Gutsherr, oder Gottlob Ehrenreich von Ziegler und Klipphausen. Im Auftrag jener Rittergutsbesitzer entsteht im 18. Jahrhundert das Herrenhaus an der Spreebrücke nach Burk. Das „Album der Rittergüter und Schlösser im Königreiche Sachsen“ schreibt: „Vom Schlosse aus führen überall hin Alleen und die reizenden Ufer der Spree liefern herrliche Ansichten dem Beschauer.“ Das Buch gab Gustav Adolf Poenicke zwischen 1854 bis 1861 heraus.
Ein eingeheirateter Sprössling derer von Ziegler und Klipphausen, Franz-Rudolph von Uckermark-Bendeleben, verkauft das Grundstück 1852 für 70 000 Taler an den Zittauer Kaufmann Heinrich Carl Müller. Der Unternehmer machte sich einen Namen als Garn- und Leinwandhändler. Er gründete am 1. Juli 1845 mit vier weiteren Teilhabern die Flachsgarn-Spinnerei Hirschfelde als erste Maschinenflachsspinnerei im Königreich Sachsen. Ihre Produktion nimmt sie 1847 auf.
Lose Granitsteine knirschen unter den Füßen im aufgetauchten Malsitz. Der Steinbruch, heißt es in zahlreichen alten Beschreibungen des Ortes, hat direkt hinter dem Herrensitz gelegen. Seine Hoch-Zeit erlebte er durch den Bau der Autobahnbrücke 1940, schrieb Herbert Flügel im „Oberlausitzer Hausbuch 2010“. Schon fünf Jahre sprengt die Wehrmacht das Viadukt zwischen Bautzen-West und Bautzen-Ost. Zerstört wird durch den Krieg auch das Rittergut samt Herrenhaus. Lediglich die Mühle an der Spree klappert noch zu Beginn der 1970er-Jahre.
Es muss saftige Felder gegeben haben
Das Wasser des Stausees setzt sich für einen Augenblick in Bewegung, als hätte jemand den Stöpsel gezogen. Auf den freigewordenen Geröllhaufen trocknen Stahlseile wie auch ein altes, hölzernes Wagenrad in der Sonne. Vielleicht liegt es schon seit der Flutung des Dorfes ab 1975 im Wasser, vielleicht ist es einem Bauern auch erst später verloren gegangen. Saftige Felder müssen einst in den Windungen der Spree gelegen haben. In etwa 30 Schleifen hat sich der Fluss zwischen dem Abgottfelsen in Oehna und dem Gottlobsberg bei Niedergurig durch das Land geringelt. Zum Malsitzer Grundbesitz gehörten 400 Hektar Acker und über 50 Hektar Grünland.
Bei den Bautzenern aber ist Malsitz ein beliebtes Ausflugsziel. Um 1900 entdecken die Bürger die Sommerfrische. Der Gasthof der Petaschs liegt direkt an der Spree. Es gibt einen Biergarten und einen Bootsverleih. Über den Wanderweg rechts der Spree kommen die Ausflügler zu Fuß in Spree-Paradies, die Radfahrer erreichen Malsitz über Oehna oder Burk. Selbst einige „Automobilisten“ machen einen Abstecher für den Urlaub vor der Haustür. Nach der einen Kilometer langen Rudertour unter Weiden und Eschen gibt es zur Stärkung Kümmelkäse mit Brot und Butter.
Ein weiteres Tretboot landet an der Vogelinsel. Großmutter, Großvater und Enkeltochter machen nur einen Zwischenstopp, bevor ihre Tour über den Stausee weitergeht. Da sei alles zusammengefallen, kommentiert die Urlauberin das Gesehene. Bereits in den 1950er-Jahren macht Malsitz und im nur einen halben Kilometer entfernten Nimschütz das Gerücht die Runde, dass die Einwohner einer Talsperre weichen sollen. 1968 werden diese Pläne konkret. Geräumt werden die Orte während der Vorbereitungen zum Spreeanstau Anfang der 1970er-Jahre.
Versunkene Idylle
Die Bewohner ziehen teils nach Bautzen oder in andere Orte. Die Gebäude werden abgetragen. Das einst mäandernde Spreetal verschlingen mehr als 40 Millionen Kubikmeter Wasser. Die Stauanlage geht 1978 nach einem dreijährigen Probestau in Betrieb. Die Dörfer verschwinden von den Landkarten, nur Erzählungen und alte Ansichten bleiben. Doch zuweilen taucht die versunkene Idylle wieder auf wie jetzt bei den Sanierungsarbeiten. Bis Ende Oktober sollen sie dauern. Danach werden sich die Mauerreste von Malsitz wieder unter den Wasserspiegel zurückziehen.