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Ausgraben statt wegbaggern

Vor fast 40 Jahren ist der Ort Tschelln dem Tagebau gewichen. Jetzt haben Bewohner ihre alten Erinnerungen in einer Chronik gesammelt.

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© Jens Trenkler

Von Sabine Ohlenbusch

Eine Utopie ist die Geschichte eines Ortes, den es nicht gibt. Alles kann der Autor hier hineinträumen. Die Chronik des sorbischen Dorfes Tzschelln ist genau umgekehrt entstanden. Der Ort ist 1979 entsiedelt und abgebaggert worden – wegen des Tagebaus. Durch die nun erschienene Chronik lässt sich der Ort noch einmal erleben. „Gott hat die Lausitz erschaffen, aber der Teufel hat die Kohle darunter gelegt“, sagt ein sorbisches Sprichwort über das zwiespältige Verhältnis der Menschen hier zur Braunkohle. Eine Gruppe von rund 20 Autoren, darunter Einwohner, hat das Buch geschrieben. Der jüngste ist mit 40 Jahren Sandro Biewig.

In der Tzschellner Pappfabrik legt Christina Wolschs Mutter große Bögen Lederpappe aufeinander.
In der Tzschellner Pappfabrik legt Christina Wolschs Mutter große Bögen Lederpappe aufeinander. © privat
Beim Jugendzampern 1975 ist Christina Wolsch (rechts) mit ihren Freunden durch das Dorf gezogen.
Beim Jugendzampern 1975 ist Christina Wolsch (rechts) mit ihren Freunden durch das Dorf gezogen. © privat

Die Chronik-Verfasser beschreiben darin den Ort, der ihnen fehlt. Das Leben, die Bräuche, die ihn ausgemacht haben. Vom Kindergarten, der Kirche und dem Konsum des Dorfes erzählt die Chronik. Auch ein Interview mit dem letzten Bürgermeister zeugt von der anderen Zeit. Auch die kleinen Sensationen verzeichnet das Werk, welche die Menschen bis heute nicht vergessen haben. Zum Beispiel ein kleines Busunglück, bei der das Fahrzeug nach einem Berlin-Ausflug in den frühen 60er Jahren im Straßengraben gelandet ist. Ihre Texte und Bilder haben die Menschen beigetragen, um diese Erinnerungen für alle wieder aufleben zu lassen.

Chroniken gegen das Vergessen

Die Idee zu dem Projekt hat der Vorstand des Heimatvereins Tzschelln um die Vorsitzende Christina Wolsch gehabt. „Als die ersten Chroniken zu den umliegenden Orten erschienen sind, haben wir gedacht: Das wollen wir auch“, erzählt sie. Innerhalb von vier Jahren ist dann das große Projekt entstanden. Als Zeitdokument ist es umso wertvoller, weil es einen Ort beschreibt, der nicht mehr ist. Ein Nicht-Ort.

136 Lausitzer Orte sind seit 1924 dem Braunkohlebergbau ganz oder teilweise gewichen. Über 25000 Menschen haben ihre Heimat aufgegeben. In Tzschelln sind es 276 Umsiedler gewesen. Und damals haben sie dafür längst keine so große Entschädigung erhalten wie heute, erzählen sie. So ist das Projekt der Chronik allenfalls als winzige Anerkennung des Vattenfall-Konzerns dafür zu sehen, was die Menschen verloren haben. Denn auch wenn die Schreibarbeit zu großen Teilen die Bewohner selbst geleistet haben, hat der Energiegigant Druck und Redaktion bezahlt. Aber zu der Zeit, als Tzschelln verschwunden ist, ist Vattenfall natürlich nicht in der Lausitz aktiv gewesen. Aber für andere Orte wie Mühlrose oder Schleife hat sich das Unternehmen zu den Chroniken verpflichtet. Die Orte werden mehr oder weniger sicher ebenfalls dem Braunkohleabbau zum Opfer fallen.

Sandro Biewig ist der letzte Mensch, der in Tzschelln zur Welt kommt, bevor der Ort verschwindet. Seit dem Abitur erforscht er das, was von seiner Heimat geblieben ist: Die Beziehungen der Menschen, die dort gelebt haben. Dabei sieht er sich eher als Ethnologe denn als Ahnenforscher. Denn er forscht nicht über einzelne Familien, sondern über den gesamten Ort. Doch wie so häufig in kleinen Orten sind viele Familien untereinander ganz entfernt wieder verwandt. Der Zusammenhang zwischen diesen ganzen Onkeln und Tanten hat Sandro Biewig schon als Kind fasziniert – und heute zeigt sich, dass diese Bezeichnung gar nicht so falsch ist. Ein Verzeichnis der häufigsten Nachnamen mit oder ohne direkter verwandtschaftlicher Verbindung hat er deshalb zur Chronik beigetragen. Mit Christina Wolsch ist er über sieben Ecken verwandt. „Sandro ist immer mein Joker gewesen“, sagt sie, „ihn habe ich immer angerufen, wenn ich nicht weiter gewusst habe.“ Sandro Biewig verbürgt sich dafür, dass alle Häuser im Ort durch ein Foto dokumentiert sind – sofern noch ein Bild existiert hat. „Bei zweien ist das allerdings nicht der Fall“, sagt er bedauernd.

Die Tzschellner gehören weiterhin zusammen, auch wenn sie räumlich nun keine Nachbarn mehr sind. Sie alle haben eine Chronik – glücklicherweise, denn diese ist mittlerweile vergriffen. Immer am zweiten Augustwochenende treffen sich rund 60 Menschen zum Picknick dort, wo früher Tzschelln gewesen ist. 2000 ist ein Gedenkstein errichtet worden, an dem sie zusammenkommen. Außerdem gibt es jedes Jahr ein Heimattreffen im Gasthaus Zur Linde in Krauschwitz, zu dem der Verein 100 Teilnehmer erwartet. In diesem Jahr wird es am 22. Oktober stattfinden.