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„Fast jeder aus der Lausitz hat jemanden in der Familie, der Sorbisch gesprochen hat“

Bis zum Jahr 2100 sollen 100.000 Menschen in der Lausitz Sorbisch sprechen. Dieses Ziel verfolgt das Projekt ZARI. Wie die Sprache wiederbelebt werden soll.

Von Katja Schlenker
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Wer von der Friedensbrücke in die Innenstadt von Bautzen kommt, wird an diesem Hausgiebel zweisprachig begrüßt. Geht es nach Sprachwissenschaftlerin Cordula Ratajczakowa sollen Sorbisch und Deutsch auch an anderen Stellen gleichwertig verwendet werden.
Wer von der Friedensbrücke in die Innenstadt von Bautzen kommt, wird an diesem Hausgiebel zweisprachig begrüßt. Geht es nach Sprachwissenschaftlerin Cordula Ratajczakowa sollen Sorbisch und Deutsch auch an anderen Stellen gleichwertig verwendet werden. © Fotos: Isabella Fusaro, SZ

Bautzen. Bis zum Jahr 2100 soll es 100.000 Sorbisch sprechende Menschen in der Ober- und der Mittellausitz geben. Dieses ambitionierte Ziel hat sich das Projekt ZARI gesetzt, welches sich in Trägerschaft der Domowina befindet. Anlässlich des Internationalen Tags der Muttersprache am 21. Februar 2024 erklärt Cordula Ratajczakowa als wissenschaftliche Leiterin der Sprachforschung, worum es bei dem Projekt geht und wie es möglich werden kann, dass wieder mehr Sorbisch gesprochen wird.

Frau Dr. Ratajczakowa, was kennzeichnet die Situation der sorbischen Sprache in der Lausitz?

Es gibt Zahlen aus einer Umfrage, die ich 2008 an allen weiterführenden Schulen in Bautzen durchgeführt habe – außer den sorbischen –, und die zeigen, dass zwar 75 Prozent der Befragten angeben, Sorbisch sei ein Alleinstellungsmerkmal für die Region und sie das großartig finden. In der gleichen Umfrage wird aber von 75 Prozent auch angegeben, dass sie es ablehnen, dass Sorbisch in ihrer Umgebung gesprochen wird. Das macht die Situation schwierig.

Team ZARI: (v.l.) Nicole Dolowy-Rybinska, Maria Šolcic, Julian Nyca, Diana Pawlikowa, Sonja Hrjehorjowa, Jadwiga Bryckec, Cordula Ratajczakowa, Raphaela Wicazowa, Juliana Kaulfürstec und Frank Knobloch.
Team ZARI: (v.l.) Nicole Dolowy-Rybinska, Maria Šolcic, Julian Nyca, Diana Pawlikowa, Sonja Hrjehorjowa, Jadwiga Bryckec, Cordula Ratajczakowa, Raphaela Wicazowa, Juliana Kaulfürstec und Frank Knobloch. © ZARI

Wie macht sich das im Alltag bemerkbar?

Im Rahmen des Projekts ZARI erstellen wir um die 30 Sprachbiografien. Da gibt es zum Beispiel deutsch-sorbische Paare, bei denen der deutschsprachige Teil es ablehnt, dass mit den Kindern Sorbisch gesprochen wird. Oder das Sorbische überspringt eine Generation, weil es während der Zeit des Nationalsozialismus verboten und danach verpönt war, Sorbisch in der Öffentlichkeit zu sprechen. Folglich ist die Sprache nicht an die Kinder weitergegeben worden, weil man ihnen diese Schmach ersparen wollte.

Dabei ist Zweisprachigkeit doch etwas Positives, gerade für Kinder.

Das ist früher nicht so gewesen. Da hieß es, dass es der psychischen Gesundheit nicht zuträglich sei, wenn Kinder zweisprachig aufwachsen. Auch haben sich viele Lausitzer für das Deutsche entschieden, weil es die Zeit der Nationalsprache, der Einsprachigkeit war. Lediglich in der katholischen Region nahe Kamenz ist das anders. Mittlerweile hat sich das komplett gewandelt, und es wird als überaus positiv angesehen, wenn Kinder zweisprachig aufwachsen.

Es gibt also ein neues Bewusstsein für die eigene Sprachgeschichte?

Ja, und man muss sich heute auch nicht mehr für eine Sprache entscheiden. Da setzt unser Projekt an. Es geht darum, jene zu unterstützen, die sich das Sorbische wieder aneignen wollen, und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, welchen Reichtum wir in der Lausitz haben. Im Rahmen des Projekts wollen wir unter anderem bis Ende 2024 einen Aktionsplan mit Maßnahmen erstellen und zukünftig eine Art Sprachagentur etablieren.

Wie schafft man es angesichts dieser Grundlage dann aber, eine Sprache zu revitalisieren?

Man kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass fast jeder, der aus der Lausitz kommt, jemanden in der Familie hat, der Sorbisch gesprochen hat. Sorbisch ist Großmutter- und Großvatersprache in der Lausitz. Sie ist dann aber in der Familie verloren gegangen. Die Chance hier ist nun, sich dessen wieder bewusst zu werden. In anderen Regionen hat es diese Entwicklung ebenfalls gegeben.

Können Sie ein Beispiel nennen?

In der Bretagne zum Beispiel fehlte eine ganze Generation an Sprechern. Dort ist man sehr aktiv mit dem Thema umgegangen und hat es geschafft, die bretonische Sprache zu revitalisieren. Das heißt, zu ermöglichen, die Sprache aktiv zu nutzen. Oft ist es so, dass Sorben auch aus Höflichkeit Deutsch sprechen. Der Deutsche wiederum erwartet, dass in seiner Umgebung Deutsch gesprochen wird. Das muss sich ändern.

Wie kann das gehen?

Da gibt es verschiedene Säulen. Zum einen muss sich die Sprachideologie ändern, sodass es okay ist und sich keiner gestört fühlt, wenn in der Umgebung eine andere Sprache zu hören ist und Sorbisch wieder atmen kann, dass es neue Sprachräume gibt. Zum anderen geht es darum, das Sorbische präsenter zu machen. Mein Kollege zum Beispiel arbeitet gerade daran, dass im ÖPNV Ansagen auch auf Sorbisch zu hören sind. Es freut uns außerdem, dass die Stadt Bautzen Händler und Gastronomen fördert, die das Sorbische in ihre Angebote integrieren.

Wie viele Menschen sprechen denn aktuell Sorbisch? Und wie viele braucht es noch, damit 100.000 erreicht werden?

Das ist schwierig zu beantworten, weil wir diese Zahlen nicht haben und mit dem Projekt erst erarbeiten. Ich bin mittlerweile auf einigen Konferenzen gewesen, bei denen es um bedrohte Sprachen ging. Alle Vorträge fangen mit Statistik an – wie viele Menschen sprechen die Sprache, wie oft wird diese benutzt, wie viele Menschen haben Kenntnisse der Sprache. Wir haben diese Zahlen noch nicht, was es schwierig macht, aktive Sprachpolitik zu machen.

Angesichts dieser Ausgangslage – wie kann das Sorbische zum Alltag in der Lausitz werden?

Ab 2025 werden wir mit der Studie zur ethnolinguistischen Vitalität starten. Danach – 2026 oder 2027 – wissen wir, wie viele Menschen Sorbisch-Kenntnisse haben. Da bin ich sehr gespannt drauf. Ich würde es schon als Erfolg empfinden, wenn man irgendwann in den nächsten Jahren zum Bäcker oder ins Restaurant geht und beim Grüßen ganz selbstverständlich ein Dobry dźeń oder Božemje hört.

Im Rahmen des Projekts gibt es fünf Sprachmotivatoren – welche Aufgabe haben sie?

Die Sprachmotivatoren sind in der Region verteilt, organisieren verschiedene Angebote und unterstützen bestehende Initiativen. Außerdem helfen sie dabei, wenn jemand Sorbisch lernen möchte. Manche trauen sich am Anfang noch nicht so richtig zu sprechen, aus Angst, etwas falsch zu sagen. Jeder der Motivatoren hat seine Methode, um den Zugang zum Sorbischen zu erleichtern – manche über Musik, andere übers Wandern oder Kochen.

Ziel des Projekts ist, 100.000 Sorbisch-Sprecher bis 2100 zu generieren – das werden Sie und Ihre Kollegen nicht mehr erleben. Macht Sie das traurig?

2021 gab es einen Moment, in dem mein Mann und ich uns über den Übergang ins Rentenalter unterhalten haben und er mich gefragt hat, wie lange ich noch arbeiten will. Damals dachte ich: So lange vielleicht nicht mehr. Aber als ich dieses Projekt angefangen habe, hat sich dieses Bild gedreht. Ich werde dieses Jahr 60 und will in sieben Jahren auf jeden Fall noch die ersten Früchte sehen. Das wäre dann schon wie Frühling.