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Chaos mit roten Karten

Mehr als 200 Rettungskräfte haben gestern in Löbau den Katastrophenfall geprobt: Ein Busunglück mit vielen Verletzten.

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Von Frank Seibel

So ein schöner Sonntagmorgen. Der blaue Himmel, frische, klare Luft. Rettungswagen glänzen in der Sonne. Es sind viele Rettungswagen diesmal auf dem Parkplatz vor der Leitstelle am Stadtrand von Löbau. Männer und Frauen in Rot und Weiß stehen in Gruppen zusammen. Morgens um neun ist schon klar: Heute passiert etwas.

Mario Kanzler hat sich seine Leute im Schatten des Plattenbaus im Verwaltungsviertel an der Georgewitzer Straße zusammengeholt. Der 45-jährige Rettungsdienstleiter des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) in Löbau spricht mit zehn Leuten über eine Katastrophe, die erst in einer Stunde passieren wird. Mario Kanzler ist schon zu DDR-Zeiten Lebensretter gewesen. Aber das, was kommen wird, hat er noch nie erlebt. Heiko Groth ist der Ruhigste in der Runde. Auf ihn wird es heute besonders ankommen, auf ihn, den einzigen Arzt, den Leitenden Notarzt. Eigentlich könnte sich der 47-Jährige Anästhesist heute von seiner Arbeit am Klinikum Ebersbach ausruhen. Doch das wird heute kein Sonntagsspaziergang. Für ihn nicht, für Mario Kanzler nicht und nicht für 220 Feuerwehrleute, Rettungsdienstler und Katastrophenschützer aus dem gesamten Landkreis. Noch 55 Minuten, dann wird es fürchterlich krachen am anderen Ende der Stadt, ein Bus voller Kinder gegen ein Auto mit vier Menschen drin; es wird sehr viele Verletzte geben. Das ist das Szenario für die Großübung, wie es sich das Amt für Katastrophenschutz des Landkreises ausgedacht hat. Erstmals üben alle Einheiten aus allen Teilen des Landkreises miteinander den Ernstfall. Es geht um die Zusammenarbeit vor Ort, nicht darum, wer am schnellsten zur Stelle ist. Daher sind die Rettungsdienstler aus Weißwasser schon am Vorabend nach Löbau gereist, deshalb sind die Görlitzer schon unterwegs.

Ein paar Kilometer südlich stopft sich Isabell Neumann (22) aus Kemnitzum kurz nach neun ein Kissen unter den Pulli und wird dadurch ziemlich schwanger. Der neunjährige Florian Röntsch aus Herrnhut bekommt von seiner Mutter eine Platzwunde mit viel Filmblut auf die Stirn, Laura Wünsche (16) aus Oderwitz bekommt von der Maskenbildnerin eine Schürfwunde am rechten Unterarm. Die jungen Leute sind drei von etwa 50 Darstellern, die heute zu Opfern werden und viel über sich ergehen lassen müssen. Um drei viertel zehn sitzen sie im Bus, der quer auf einer breiten Ausfallstraße im Süden der Stadt steht.

Zur selben Zeit schnappen sich Marion Kanzler und Heiko Groth ihre Schutzhelme. „Die braucht man, wenn man an so eine Unfallstelle kommt, wo man vielleicht in ein umgestürztes Fahrzeug kriechen muss“, sagt Kanzler. Normalerweise würden sie oben in der Wache sitzen, Kaffee trinken und auf den nächsten Einsatz warten. Aber diesmal setzen sich der Rettungsdienstler und sein Notarzt schon ins Auto – ein langer, schwerer Audi Quattro Kombi ist das, mit 170 PS und Turbodiesel. Kleinere Autos, sagt Kanzler, schaffen es gar nicht mehr, das ganze Zubehör zu schleppen, das in Alukoffern hinten im Kofferraum lagert.

Um Punkt zehn kommt der Funkspruch. „Hundertzweiundachtzig zwei, fahren Sie in die Rumburker Straße, Verkehrsunfall mit Bus und PKW.“ Los geht’s, mit Blaulicht und Martinshorn, mit 80, 100 Sachen durch die Stadt. Heiko Groth zieht sich weiße Latexhandschuhe an und nimmt ein rotes Klemmbrett mit Meldebögen zur Hand. Das ist erst mal viel wichtiger als ein Arztkoffer. Denn der Leitende Notarzt muss vor allem die Übersicht bewahren, muss Hilfe anfordern und die Rettungskräfte koordinieren.

Nach sechs Minuten sehen sie das Elend. Den Bus, den zerstörten Golf, sie hören Schreie, erste Menschen laufen blutend auf die Straße. Die Feuerwehr ist schon da, die hatte einen kürzeren Weg. Heiko Groth und Mario Kanzler ignorieren die Zuschauer hinter den rot-weißen Absperrbändern, sie dürfen sich auch vom Chaos am Bus nicht anstecken lassen. Heiko Groth die Ruhe selbst, als das Spiel eine Dramatik entwickelt, die an eine echte Katastrophe glauben lässt. Ein junger Mann stolpert schreiend aus dem Bus, drinnen brüllt jemand „hier ist eine Schwangere“, und zehn Meter weiter tickt Julia Wünsche aus: „Wo ist Sofie, wo ist meine Freundin Sofie?“

Keiner rennt, aber es muss schnell gehen. Feuerwehrleute holen Kinder und Jugendliche aus dem Bus. Heiko Groth hat jeweils nur Sekunden Zeit, um eine erste Einschätzung zu geben: Rot, Gelb oder Grün? Das sind die Kategorien, die schwere und leichte Verletzungen unterscheiden. Jeder Patient bekommt eine Registrierkarte um den Hals mit einigen Angaben zur Person und zur Art der Verletzung. 50 Verletzte und kein zweiter Arzt. Es ist Sonntag – für eine Übung kann man sich keine weiteren Ärzte leisten; wer opfert schon einen Sonntag für lau? Heiko Groth macht das, seit mehr als 15 Jahren.

Mario Kanzler muss dirigieren. Für die Verletzten gibt es eine Fläche am Straßenrand. Dort liegen Decken. Alle werden hier abgelegt. Die Mimen wimmern und schreien, sie haben das Drehbuch gut gelernt. Es ist die chaotische Phase, Mario Kanzler kennt das. „Was will man mit sechs Sanitätern anfangen? Bei so vielen Verletzten bringt es nichts, sofort das Verbandszeug auszupacken. Da muss erst mal Ordnung ins Chaos.“

Es dauert nur Minuten, da kommen von Norden her die Rettungswagen, ein gutes Dutzend säumt bald die breite Straße. Ein moderner Einsatzwagen des Roten Kreuzes Zittau rollt an, vollgestopft mit Technik und Zubehör. Schnell holen die Sanitäter ein großes Zelt heraus, ein Kompressor pumpt es über dicke Schläuche auf. Bald stehen hintereinander vier solcher Zelte. Das sind die Lazarette, in denen die Patienten fürs erste medizinisch versorgt werden.

Auf dem Liegeplatz herrscht durcheinander. Grün, Gelb, Rot – alle kreuz und quer. Im Ernstfall müssten Ärzte ständig überprüfen, wie ihr Zustand ist. Die am lautesten schreien, sind oft noch am besten dran, sagt Mario Kanzler. Und Heiko Groth weiß, dass ein Mensch, der eben noch ansprechbar war, innerhalb weniger Minuten in eine lebensbedrohliche Lage geraten kann. Innere Verletzungen, Blutungen – das sind die Gefahren, die eine permanente Kontrolle nötig machen.

Julia ist Grün. Der kleine Florian auch. Mario Kanzler führt sie mit den anderen Leichtverletzten aus der Chaoszone zum hinteren der vier Zelte. Dort kümmern sich Malteser aus Görlitz um die Kinder und Jugendlichen. Aber Sofie ist immer noch weg, Julias Freundin. Mehrere Hundestaffeln suchen auf dem angrenzen Wiesengrundstück nach ihr. Isabell Neumann, die Schwangere, hat eine rote Karte, wird ab und zu ohnmächtig. Und ihr wird kalt, die Decken sind nicht dick.

Nach eineinhalb Stunden ist er Liegeplatz leer. Alle Patienten sind in Zelten. In einem trifft Heiko Groth einen Arztkollegen aus Zittau. „Warum hat er sich nicht bei mir gemeldet“, fragt er ärgerlich? Er hätte die Unterstützung in der Anfangsphase dringend gebraucht.

Jetzt wird es ruhiger. Jeder Patient ist versorgt. Die schwangere Isabell ist nun im Krankenwagen, die Leitstelle meldet: sie kommt ins Klinikum Görlitz.

Es ist drei viertel eins, als Heiko Groth sieht, wie der letzte Patient im Krankenwagen abtransportiert wird. Noch ist er angespannt. „Mittelmäßig“ knurrt er, als er gefragt wird, wie es gelaufen ist. Am Anfang haben Einsatzfahrzeuge anderen den Weg versperrt, die Erstversorgung der Opfer war zu chaotisch. Und der Abtransport hat ihm zu lange gedauert. Und dann die Fummelei mit den Patientenkarten, die schlecht in die Hülle passen. Das nervt und kostet Zeit. Manchmal sind es Kleinigkeiten.

Um halb zwei ist Feierabend für Heiko Groth und Mario Kanzler. Ein paar Stunden Sonntag mit Familie. Aber der Arzt wird wohl keine Bäume mehr ausreißen. Es war anstrengend.