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Das Bier zu viel

In Freital hilft eine Beratungsstelle Süchtigen. Die meisten haben ein Alkoholproblem – und werden immer jünger.

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© dpa/Wolfram Kastl

Von Andrea Schawe

Freital. Der erste Kontakt mit der Droge kommt meist über die Eltern, im Durchschnitt sind die Kinder 14 Jahre alt – das Glas Sekt zur Jugendweihe oder der Schluck vom Bier zum Kosten. Alkohol ist der häufigste Grund für Suchtbehandlungen in Sachsen. Von den 502 Leuten, die 2015 in der Beratungsstelle „Löwenzahn“ der Arbeiterwohlfahrt Hilfe suchten, kamen 226 wegen eines Alkoholproblems. „Das ist die Droge Nummer eins, neben Nikotin“, sagt Leiter Matthias Horwath. Von Januar bis Juli 2016 ließen sich 150 Klienten wegen Alkohols von den fünf Suchttherapeuten in Freital, Dippoldiswalde und Altenberg beraten. Das Angebot ist kostenlos und auf Wunsch auch anonym. „Außerdem arbeiten wir nach den Regeln der Schweigepflicht“, so Horwath.

Matthias Horwath ist Diplom-Sozialarbeiter und Suchttherapeut. Seit 26 Jahren hilft er Betroffenen. Der 58-Jährige leitet die Suchtberatungsstelle „Löwenzahn“.
Matthias Horwath ist Diplom-Sozialarbeiter und Suchttherapeut. Seit 26 Jahren hilft er Betroffenen. Der 58-Jährige leitet die Suchtberatungsstelle „Löwenzahn“. © Andreas Weihs

Alkoholsucht gibt es in allen Schichten, die Betroffenen sind zwischen 14 und 75 Jahre alt, mehrheitlich Männer. Der Anteil der unter 20-Jährigen nimmt in den letzten Jahren zu, sagt der Suchttherapeut. Er arbeitet seit 26 Jahren in dem Beruf. Viele kommen nicht unbedingt freiwillig – etwa weil die Suchtberatung von einem Richter angeordnet wurde oder es zu den Bewährungsauflagen gehört. „Wobei die Beratung auch dann freiwillig ist“, sagt Matthias Horwath. „Jeder muss seinen Körper selbst die Treppe hochtragen.“ Es sei immer ein Mix aus Eigen- und Fremdmotivation. „Die Fremdmotivation ist meist wesentlich höher.“ Etwa weil es darum geht, die Familie zu retten, die Ausbildung oder Arbeitsstelle zu behalten oder den Führerschein wieder zu bekommen.

Alkohol wird in seiner Gefahr unterschätzt, sagt Horwath. „Er gehört zur Gesellschaft, wie die Luft zum Atmen.“ Der Pro-Kopf-Konsum in Deutschland liegt seit Jahren bei knapp unter zehn Litern reinem Alkohol pro Jahr. Etwa die Hälfte wird als Bier konsumiert, ein Viertel als Wein. Die Gepflogenheiten zwingen die Leute dazu, beim Spiel des Alkoholkonsums mitzumachen. „Ein bisschen Praxis sollte man im Umgang mit Alkohol haben, um en vogue zu sein“, so Horwath. „Wie viel genau, weiß aber keiner, da redet niemand drüber.“ Eine gewisse Verträglichkeit werde aber verlangt. „Ein junger Mensch, der nach zwei Bier aus den Latschen kippt, hat heutzutage ein Problem.“

Zwei Gesetze des Konsums

Dazu kommt, dass es zwei ungeschriebene Gesetze zum Alkoholkonsum gebe, sagt Horwath. Erstens, halte mit wie dein Nachbar. „Es gibt immer ein ortsübliches Trinkverhalten. Wenn man sich daran hält, ist man auf der richtigen Seite.“ Zweitens: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen – zumindest solange nichts Schwerwiegendes passiert. „Man mischt sich in den Konsum von anderen nicht ein.“

Das hat Folgen. Meist baut sich die Sucht sehr langsam auf. Aus Alkoholgenuss wird Missbrauch, die Toleranzgrenze steigt – und führt zu körperlicher Abhängigkeit. „Ich missbrauche den Alkohol schon, wenn ich bewusst anfange, seine feine Wirkung zu suchen“, erklärt Horwath. Wein zur Entspannung bei Stress, Bier zum Abschalten vom anstrengenden Arbeitstag, trinken, um kreativer, fröhlicher, geselliger zu sein. „Diese positiven Erfahrungen mit Alkohol sind in unserem Suchtgedächtnis gespeichert“, sagt der 58-Jährige. „Das lässt sich ein Leben lang nicht löschen.“ Irgendwann trinken die Betroffenen fast täglich, die Verträglichkeit wird so groß, dass sie auch nach sechs oder sieben Bier keine körperlichen Signale mehr spüren und sich normal fühlen.

„Trotzdem sagt niemand etwas“, beschreibt Horwath den typischen Ablauf. „Die Schamgrenze und die Sprachlosigkeit sind extrem hoch.“ Die Sucht kann sich über fünf bis 30 Jahre hinziehen. Die Spannungen in der Familie nehmen zu, der Süchtige fängt an, fahrlässig die Verantwortung für sich nicht mehr zu übernehmen – und merkt es nicht. Hier springen meist die Angehörigen ein: Die Mutter fährt ihren erwachsenen Sohn zu Terminen oder zahlt Rechnungen, die Frau will die Familie zusammenhalten und übernimmt alle Aufgaben – und unterstützt so das Verhaltensmuster des Süchtigen. „Der Schlüssel zur Hilfe sind sehr oft die Partner, Kinder oder Kollegen“, sagt Horwath. 82 Angehörige haben sich im vergangenen Jahr bei „Löwenzahn“ beraten lassen. Wichtig ist, sich rechtzeitig Hilfe zu suchen, „auch wenn nach außen noch alles schick aussieht“. Viele Angehörige kommen auch erst einmal allein in die Beratungsstelle. Mit Hilfe der Suchtberater analysieren sie ihr Verhalten. Um den Betroffenen zu helfen, müssen sie Druck aufbauen, etwa indem sie sich nicht mehr um alles kümmern. „Es geht nicht um Fallenlassen“, sagt Matthias Horwath. „Es geht um Loslassen.“ Nur so merkt der Süchtige, dass er ein Problem hat. Er rät den Angehörigen auch, offen darüber zu sprechen, dass sie zu einer Suchtberatung gehen.

Die Arbeit nach der Reha

Häufig kommen dann die Betroffenen hinterher. Die meisten absolvieren fünf bis zehn Sitzungen in der Suchtberatungsstelle – bei einem anderen Berater als die Familie. „Das ist wichtig, weil wir ja ein Vertrauensverhältnis aufbauen müssen.“ Die Suchtberatung bietet auch Infoseminare an. 2015 fanden fünf mit bis zu elf Teilnehmern in Freital statt. Ein Seminar besteht aus mehreren Bausteinen – zur Entstehung und Verlauf der Sucht und zur Behandlung. „Die Betroffenen treffen dort andere Süchtige und stellen fest, dass die gar nicht aussehen, wie die Alkoholiker aus einem Film“, sagt Horwath. Sie können sich austauschen, das hilft den meisten. „Die Fachleute für Abhängigkeit sind ja die Betroffenen selbst.“ Sie wüssten, wie man trickst, die Sucht versteckt, wie es sich anfühlt, wenn man sich aufgibt. Betroffene berichten dort auch von erfolgreichen Therapien. „Das nimmt Ängste und motiviert.“ Viele entscheiden sich danach selbst für einen Entzug und eine Therapie, entweder in einer Rehaklinik oder ambulant.

Erst danach beginnt allerdings die eigentliche Arbeit. „Das Leben in der Klinik ist nur die Vorbereitung darauf“, sagt Matthias Horwath. Trocken zu bleiben, ist ein Prozess. Im „Löwenzahn“ werden dafür Selbsthilfegruppen angeboten. Insgesamt gibt es in Freital vier Gruppen, in Dippoldiswalde zwei.

Zu spät für Hilfe ist es nie, man könne immer etwas verändern. „Wir retten Leben“, sagt er. „Wir geben keinen auf. Aber die Leute können sich nur selbst retten.“