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Das Ende einer totalitären Enklave rückt näher

Chile. Die umstrittene Deutschensiedlung Colonia Dignidadwird aufgelöst.

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Von Sandra Weiss,SZ-Korrespondentin in Montevideo

Die chilenischen Behörden haben am Wochenende mit der Auflösung der umstrittenen Deutschensiedlung Colonia Dignidad begonnen. Eine Richterin aus dem benachbarten Ort Parral erteilte einem Treuhänder die Kontrolle über die Besitztümer des heute „Villa Baviera“ genannten Anwesens im Süden Chiles, da die Siedlung eine „kriminelle Organisation“ sei.

Ein Polizeiaufgebot mit Jeeps, Hunden und Hubschraubern vollstreckte die Zwangverwaltung. Seine Aufgabe sei, die Geschäfte der Siedlung chilenischen Gesetzen und chilenischer Hoheit zu unterstellen, erklärte der Treuhänder Herman Chadwick. Die rund 250 deutschen Auswanderer und deren Angehörige, die auf dem über 13 000 Hektar großen Gelände leben, leisteten keinen Widerstand, ihr Anwalt kündigte jedoch umgehend Berufung an. „Normales Alltagsleben“ sei durch die Intervention unmöglich geworden, beschwerte sich ein Sprecher der Siedlung.

Gründer steht vor Gericht

Die „Colonia Dignidad“ war 1961 von dem deutschen Ex-Nazi Paul Schäfer gegründet worden, der wegen des Verdachts auf Kindesmissbrauch und Kooperation mit der Pinochet-Diktatur vor Gericht steht. Er wurde im März in Argentinien aufgespürt und nach Chile überstellt. Betrieben wird die Auflösung der Siedlung vom Staatsverteidigungsrat – eine Art Sonderstaatsanwaltschaft der Exekutive. Dessen Präsidentin, Clara Szczaranski, erklärte in Santiago de Chile: „Es wird keinen Staat im Staate mehr geben.“ Fortan seien die Siedler Bürger und keine Gefangenen mehr, sie hätten Rechte, bekämen einen Telefonanschluss und würden für ihre Arbeit bezahlt. Die Siedlung solle keine Enklave mehr sein, sondern dem chilenischen Wirtschaftsleben eingegliedert werden.

Chadwick übernimmt die Kontrolle über die sechs registrierten Firmen der Kolonie, soll Klarheit in die Buchhaltung bringen und das Geschäft weiter transparent und gemäß der chilenischen Steuergesetze verwalten. Zur Colonia gehören unter anderem ein Flughafen, eine Schule, ein Landwirtschaftsbetrieb und ein Krankenhaus. Laut Innenminister Francisco Vidal sollen damit die Siedler die Möglichkeit erhalten, in einem demokratischen System zu leben, angemessene Bildung zu erhalten und in absehbarer Zeit auf eigene Rechnung ihre Parzellen bearbeiten zu können.

Die Integration der Siedler dürfte jedoch sehr schwierig werden. Die meisten von ihnen sprechen kaum spanisch und wuchsen in einem abgeschirmten, von Unterdrückung und Ausbeutung geprägtem, sektenähnlichem Ambiente auf.

Die Kolonie rund 350 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago war fast vier Jahrzehnte lang vom heute 83-jährigen ehemaligen Wehrmachtsgefreiten und Laienprediger Schäfer in totalitärer Art und Weise geführt worden. Kinder wurden von ihren Eltern getrennt, in so genannten „Kinderhäusern“ aufgezogen und von Schäfer missbraucht. Aufmüpfige wurden mit Schlägen oder Psychofarmaka ruhig gestellt. Kontakt mit der Außenwelt war nur Schäfer und seinen Helfershelfern erlaubt. Die Billigung der chilenischen Behörden hatte sich Schäfer durch seine Kooperation während der Militärdiktatur von Augusto Pinochet (1973-1990) erkauft.