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Das Ende vom amerikanischen Traum?

Tausende Migranten aus Mittelamerika ziehen quer durch Mexiko in Richtung der USA. Unterwegs stranden sie an ungewöhnlichen Orten. 

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Aus dem Süden Amerikas zieht eine unbekannte Zahl an Menschen zu Fuß oder per Anhalter auf vielen Wegen nordwärts, durch Mexiko und zur Grenze zu den USA.
Aus dem Süden Amerikas zieht eine unbekannte Zahl an Menschen zu Fuß oder per Anhalter auf vielen Wegen nordwärts, durch Mexiko und zur Grenze zu den USA. © Pedro Pardo/Getty Images

Leichtathleten trainieren, sammelt sich eine Menschentraube. Ein Mann mit Megafon begrüßt die Ankommenden. Sie tragen Flaggen und Schilder, um einander wiederzufinden. Mehr als einen Monat sind sie schon gemeinsam auf dem Weg in die Vereinigten Staaten. Hubschrauber kreisen im Tiefflug über dem Sportstadion im Norden von Mexiko-Stadt. Sie streifen fast die Palmen. An den Geländern der Tribünen hängt frisch gewaschene Wäsche. In großen Wasserbottichen baden die Ankommenden. Bachata-Musik schallt aus Lautsprecherboxen über das Gelände. Eine Gruppe tanzt auf der Laufbahn. Es hat den Anschein, als feierten sie hier einen ganz anderen als sportlichen Triumph – als seien sie glücklich, es gemeinsam bis hierher geschafft zu haben, bis zu diesem Ort in Mexiko-Stadt, an dem man sich erholen und innehalten kann.

Mehrere Tausend Menschen aus Guatemala, Honduras und El Salvador haben sich seit Anfang Oktober der Migrationskarawane Richtung Norden angeschlossen, um die Südgrenze der USA zu erreichen. Die meisten visieren die mexikanische Grenzstadt Tijuana an, etwa 2 800 Kilometer nördlich von der Hauptstadt Mexiko Stadt gelegen. Unter den Geflüchteten sind viele Minderjährige, einige unbegleitet.

Einer davon ist Alexander Gonzales Herrarte. Er kenne den Weg bereits, erzählt der 17-Jährige auf der Tribüne des Sportstadions. Er sei auf dem Weg zu seiner Mutter. Die habe ihn verlassen, als er sechs Monate alt war, um in den USA Arbeit in einem Restaurant zu finden. Zehn Jahre sei es nun her, dass er sie besuchen durfte und zum letzten Mal gesehen habe. Er erinnere sich an die vielen Kreuze an den Rändern der Fernrouten in Richtung USA, an die sauberen Straßen dort, vor allem aber an eines: dass man sich sicher fühlen konnte. Doch bleiben durfte er nicht. Nach drei Monaten wurde Alexander wieder abgeschoben. Die Mutter, mittlerweile in den USA verheiratet, musste sich damit abfinden. Seither wisse er, sagt Alexander, dass er unbedingt wieder zu ihr zurückkehren wolle, egal ob mit einem Visum oder „mojado“, zu Deutsch: nass, also durch den Fluss, als illegaler Migrant.

Alexander Gonzales Herrarte aus Guatemala ist 17 Jahre alt. Anfang Oktober machte er sich auf den Weg zur Südgrenze der USA. 
Alexander Gonzales Herrarte aus Guatemala ist 17 Jahre alt. Anfang Oktober machte er sich auf den Weg zur Südgrenze der USA.  © Felie Zernack

Freundin unterwegs lieber zurückgelassen

Anfang Oktober fällten in der honduranischen Stadt San Pedro Sula gut 500 Menschen eine ähnliche Entscheidung. Fernsehbilder zeigen, wie die immer weiter wachsende Gruppe die Grenze zu Guatemala durchbrach. Es waren jene Bilder, die Alexander zu einer schnellen Entscheidung bewogen. Er packte seinen Rucksack und saß wenige Stunden später im Bus Richtung „Puente“, der guatemaltekisch-mexikanischen Grenze. Bei einer Überfahrt mit dem Floß lernte er die ersten Freunde aus der Karawane kennen.

Seine Freundin habe er in Guatemala zurückgelassen, die Tour bis in die USA sei zu gefährlich. Alexander räuspert sich. Seit er auf dem Weg ist, ist er erkältet. Er trägt eine kleine Bibel in der einen Hosentasche, sein Smartphone in der anderen. Täglich korrespondiert er mit seiner Mutter. „Ich warte hier auf dich. Sei vorsichtig. Pass auf dich auf“, schreibt sie per WhatsApp. Es gibt viele Kinder und Jugendliche, die einfach nur zu ihren Eltern in den USA wollen. „Alle haben diesen Traum, dort etwas zu erreichen“, ist Alexander überzeugt. Er selbst wolle studieren und Grafikdesigner werden. Zweimal habe er in Guatemala nur knapp einen Überfall von Kriminellen überlebt: „Ich will endlich in einem Land leben, in dem die Gesetze respektiert werden, wo ich sicher bin.“ Für Guatemala hätte er keine Hoffnung mehr.

Die meisten Migranten fliehen vor endemischer Gewalt und marodierenden Banden, Arbeitslosigkeit und Armut. Glaubt man einer Umfrage der Internationalen Organisation für Migration (IOM), die den Marsch aus Mittelamerika von Anfang an begleitet hat, suchen vier Fünftel der Migranten ein besseres, vor allem sicheres Leben. Tatsächlich erwarte sie an der US- Grenze eines der restriktivsten Asylverfahren weltweit, meint Atenas Burrola von Pueblos Sin Fronteras, Menschen ohne Grenzen. Sie trägt ein orangefarbenes Cap als Zeichen dafür, dass Migranten sie nach Informationen fragen können. Im Flüchtlingscamp in Mexiko-Stadt erklärt die US-Amerikanerin den vorübergehend Gestrandeten, was passieren kann, wenn sie die vermeintliche Endstation ihrer Reise erreichen. Dass Flucht vor Elend und Gewalt allein nicht ausreiche, um auf einen Schutzstatus rechnen zu dürfen. Die wenigsten kennen das amerikanische Asylverfahren. Es kann dazu führen, dass Asylsuchende bis zu sechs Monate in einem Camp festgehalten werden.

Berät Menschen zu Fragen des US-amerikanischen Asylrechts: Atenas Burrola von Pueblos Sin Fronteras, Menschen ohne Grenzen. 
Berät Menschen zu Fragen des US-amerikanischen Asylrechts: Atenas Burrola von Pueblos Sin Fronteras, Menschen ohne Grenzen.  © Felie Zernack

"Invasion" der Migranten ist nur ein "Tropfen"

Doch schreckt das die Geflüchteten viel weniger als die Sorge, womöglich von ihren Angehörigen getrennt zu werden. In der Vergangenheit wurden Familien – nicht selten Mütter und ihre Kinder – auseinandergerissen. Das Thema Migration sei derzeit in den Vereinigten Staaten überpolitisiert, findet Burrola. In Wirklichkeit sei die Karawane kein Strom von Menschen, den man nicht abhalten könne, sondern bestenfalls ein „Tropfen“. Mit dem Megafon auf dem Weg zu einem Meeting sagt sie: „Das Ausmaß der Migrationswelle ist nicht neu. Der Unterschied ist, dass sich diesmal die Geflüchteten zusammengetan haben und zusammenbleiben wollen, das ängstigt die US-Amerikaner.“ Präsident Trump hat mehrfach von einer „Invasion“ gesprochen und ließ einige Tausend Soldaten an die Grenze verlegen. Am 9. November unterzeichnete er ein Dekret, nach dem illegal Eingereiste keinen Anspruch auf Asyl mehr haben. Eine Maßnahme, die nicht mit internationalem Recht vereinbar wäre, kritisieren internationale Organisationen.

Doch in den Flüchtlingscamps in Mexiko-Stadt hat Trumps Gebaren durchaus Wirkung hinterlassen. Mehr als 3 000 Mittelamerikaner hätten um Asyl gebeten, teilt das mexikanische Innenministerium mit. Den Menschen würden vorübergehend provisorische Papiere ausgehändigt, die sie berechtigten, sich sofort um Arbeit zu bemühen. Viele Geflüchtete seien sehr erschöpft, meint Alexander. Er rechnet damit, dass etwa die Hälfte seiner Karawanen-Kameraden in Mexiko bleiben werde.

Er selbst jedoch will an seinen Plänen festhalten, sagt Alexander auf seiner Zwischenstation in Mexiko- Stadt: „Ich bin mit der Karawane losgegangen und gehe mit denen weiter, die nicht aufgeben. Aus uns ist eine Familie geworden.“ Jeden Abend würden sie sich zu einer großen Versammlung treffen, fährt er fort und zwirbelt an seinem rosafarbenen Armband, das eine fünfstellige Registriernummer trägt. „Nur weil wir so viele sind, werden wir es schaffen, die Grenze zu durchbrechen“, ist er überzeugt: „Alle werden über die Grenze gehen, und wir alle werden festgenommen.“ Was ihn dann erwarte, könne nicht schlimmer sein als das, was tagtäglich in seinem Land, in Guatemala, passiert. „In Amerika dürfen sie uns zumindest nicht töten.“

So zieht er mit einem Teil seiner Gruppe weiter in Richtung der Grenzstadt Tijuana. Als der 17-Jährige Mexiko-Stadt verlässt, glaubt er, dass es nicht länger als zwei Wochen dauern wird, bis sie am Ziel sind, und dass er bald bei seiner Mutter sein kann. Nach knapp einer Woche bereits erreicht Alexander die mexikanische Grenzstadt als einer von mittlerweile mehr als 9 000 Migranten. Es ist nur die Spitze der Karawane, die hier eintrifft.

Flüchtlinge ruhen sich aus auf den Zuschauertribünen eines Stadions in Mexiko-Stadt. Auch in anderen Orten Mexikos werden derzeit Sportzentren als Camp genutzt. 
Flüchtlinge ruhen sich aus auf den Zuschauertribünen eines Stadions in Mexiko-Stadt. Auch in anderen Orten Mexikos werden derzeit Sportzentren als Camp genutzt.  © Alfredo Estrella/Getty Images

Monatelanges Warten auf Aufruf der Wartenummer

Das UNHCR, die Flüchtlingshilfe der Vereinten Nationen, geht davon aus, dass noch mehrere Tausende mit dem gleichen Ziel durch Mexiko unterwegs sind. In der Grenzstadt zum US-Bundesstaat Kalifornien ist die Lage angespannt. Mehrere Tausend Migranten der Karawane sind derzeit in der Baustelle eines fast fertiggestellten Einkaufszentrums untergebracht. Tijuanas Bürgermeister Juan Manuel Gastélum erklärt den „humanitären Notstand“, seine Kommune sei unzureichend vorbereitet auf einen solchen Zustrom von Migranten.

Währenddessen lässt Donald Trump per Twitter verlauten: „Ebenso sind die Vereinigten Staaten auf diese Invasion schlecht vorbereitet.“ Als Hunderte Migranten den Grenzübergang durchbrechen wollen, reagieren US-Grenzschützer mit Tränengas. Zeitweise bleibt der Grenzübergang geschlossen. Statt des erhofften Übertritts zum amerikanischen Traum wird Alexander nach einem Marsch von mehreren Tausend Kilometern mit der Warnung des US-Präsidenten begrüßt: „Illegale Migranten, die versuchen, in die USA zu kommen, dabei noch stolz ihre Flaggen schwingen und nach Asyl fragen, werden eingesperrt und abgewiesen.“

In Tijuana erscheint die Trennung von den bisherigen Begleitern unausweichlich. „Die Leute wollen uns hier weghaben“, sagt Alexander. Seit er von einem Bewohner überfallen wurde, verlässt er nur wenn nötig das Haus. Er will sich allein durchschlagen, kommt bei einem Cousin seiner Mutter unter und erhält schließlich die Wartenummer für einen Asylantrag, verbunden mit der Auskunft: Bis zu acht Monate kann es dauern, bis diese Zahl aufgerufen wird. Dann wird sein Asylprozess ohne Begründung abgelehnt.

Wie viele der Gestrandeten weiß Alexander nicht, wie es weitergehen soll. Indes droht auch Mexiko mit der Abschiebung der mittelamerikanischen Migranten. Fast 500 Personen der Karawane wären bislang freiwillig in ihr Heimatland zurückgekehrt, berichtet die Migrations-Organisation IOM. Noch mehr als die Gefahren im Grenzort Tijuana fürchtet sich Alexander vor der Rückkehr in die Heimat. Am Ende der Reise ist sein amerikanischer Traum ein ganz einfacher: endlich seine Mutter zu sehen.

„Du musst Geduld haben“, schreibt ihm seine Mutter. „Ich warte auf dich.“

Wer eine Entscheidung getroffen habe, müsse auch die Folgen ertragen, glaubt Alexander. Am Ende will er vor seiner Mutter stehen, von Angesicht zu Angesicht. „Ich möchte endlich wissen, warum sie mich alleinließ. Weswegen sie damals in die Vereinigten Staaten wollte. War der Grund ihr amerikanischer Traum?“ Sei sie auf der Flucht oder auf der Suche nach dem besseren Leben gewesen? Wie ist es ihr bis heute in den Staaten wirklich ergangen? Das seien Dinge, die man nicht am Telefon besprechen könne.