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Das Experiment am Raschelberg

Vor 20 Jahren wurde die gleichnamige Wohnungsgenossenschaft gegründet. Damals brauchte es viel Überzeugungsarbeit.

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© Andreas Weihs

Von Carina Brestrich

Freital. Wenn Rainer Seidel 20 Jahre zurückdenkt, dann kann er selbst nur staunen. Damals wurde die Wohnungsgenossenschaft Raschelberg (WGR) gegründet. Seidel, zu dieser Zeit im Aufsichtsrat und heute technischer Vorstand der Genossenschaft, war live dabei. Er erinnert sich noch an die Vertragsunterzeichnung. Am 31. Dezember 1996 war das. „Acht Stunden saßen wir beim Notar“, erzählt er. Was dann begann, nennt Seidel heute ein riesiges Experiment. „Uns war gar nicht bewusst, was eigentlich hätte alles passieren können.“

Hervorgegangen ist die WGR aus der Freitaler Wohnungsgenossenschaft und der städtischen Wohnungsgesellschaft Freital. Um nach dem Mauerfall alte DDR-Kredite wie vorgeschrieben abzulösen, mussten beide 15 Prozent ihrer Wohnungsbestände privatisieren. Insgesamt rund 1 000 Wohnungen sollten verkauft werden. Aber nicht einfach so. „Es bestand die Gefahr, dass zweifelhafte Investoren oder Immobilienhaie sie kaufen“, sagt Rainer Seidel. Deshalb kam die Idee auf, eine eigene Genossenschaft zu gründen und die Wohnungen zu kaufen. Der Grundstein für die WGR war gelegt.

Rolf Schiebeling erinnert sich noch an 14-Stunden-Tage und schlaflose Nächte. Der Banker und Jurist war auch bekannt als der Mann mit dem Hut. Mit dem zog er damals von Haus zu Haus. Schiebeling wurde kurz nach der Gründung Kaufmännischer Vorstand. Seine Aufgabe: Mitglieder gewinnen. In der Nachwende-Zeit keine einfache Sache. Nicht nur, weil ein Teil der Bewohner schon in einer Genossenschaftswohnung lebte und eigentlich bereits lebenslanges Wohnrecht hatte. Sondern auch weil jeder Haushalt außerdem 7 000 D-Mark zahlen musste, um Mitglied in der neuen WGR zu werden. Für damalige Verhältnisse eine riesige Summe: „Hinter den Menschen standen ja auch Schicksale“, sagt er. Viele Tränen und böse Worte habe er erlebt. Am Ende siegte der Genossenschaftsgedanke. Schieblings Ergebnis: 700 neue Mitglieder innerhalb eines Jahres.

Klaus Gelfert trägt die Mitgliedsnummer zwei. Vor der Gründung der WGR gehörte seine Wohnung zum kommunalen Bestand. Von der Idee, eine neue Genossenschaft zu gründen, war das spätere Aufsichtsratsmitglied schnell begeistert. „Es gab uns die Möglichkeit, selbst Einfluss zu nehmen und mitzugestalten, statt seine Wohnung vielleicht einem Immobilienhai zu überlassen“, sagt er.

Dieser Gedanke verband viele, so wie auch die Hoffnung auf eine sanierte Wohnung. „Der Erwartungsdruck war damals enorm“, sagt Rainer Seidel. Dem versuchte die Genossenschaft ab 1998 Haus für Haus gerecht zu werden. Bis 2000 wurden in den Wohnungen Heizung, Sanitär und Elektrik auf den aktuellen Stand gebracht. „Wer nicht woanders unterkam, zog von Zimmer zu Zimmer“, erzählt Seidel. Ab 2004, nach einer finanziellen Atempause, folgten dann die Außenfassaden der 36 Mehrfamilienhäuser, sieben Wohnblocks und 21 Siedlungshäuser. 2007 kam für die Genossenschaft das wohl härteste Jahr. Wie anderen Wohnungsanbieter machte damals auch am Raschelberg der Leerstand zu schaffen. Hinzu kamen die Belastungen durch die Kredite. Erleichterung brachte der Verkauf von sieben noch unsanierten Siedlungshäusern an der Rudeltstraße.

Auch wenn sich die Lage inzwischen entspannt hat: Herausforderungen sieht Rainer Seidel immer noch. „Wir müssen heute sehr viel flexibler auf die Bedürfnisse der Mitglieder reagieren können“, sagt er, und meint damit nicht nur die Ansprüche an die Wohnungsgrößen. „Heute muss eine Wohnung renoviert und bezugsfertig sein“, sagt er. Früher hätten die Mieter viel mehr in Eigenleistung gebaut.

Heute zählt die WGR knapp 940 Mitglieder, der Leerstand liegt inzwischen bei unter drei Prozent. „Das heißt aber nicht, dass wir nichts tun müssen“, sagt Rainer Seidel. So will die Genossenschaft im kommenden Frühjahr mit dem Bau eines neuen, dreigeschossigen Wohnhauses an der Niederhäslicher Straße beginnen. Entstehen sollen 18 Drei- und Vierraum-Wohnungen. Die ebenerdigen Wohnungen im Erdgeschoss sind für Ältere gedacht, die über Terrassen zu ihren Wohnungen kommen sollen. In den oberen Geschossen können Familien einziehen. „Es soll ein Mehrgenerationenhaus werden“, sagt er.