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Das Geheimnis der Ess-Kastanie

Ein Spaziergang mit dem Tharandter Forstgartendirektor zum Baum des Jahres.

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© Karl-Ludwig Oberthür

Von Jörg Stock

Wohin im Urlaub? An die weißesten Strände? In die schicksten Hotels? Für Tharandts Forstgartendirektor Andreas Roloff bedeutet Urlaub, sich Bäume anzuschauen, am liebsten möglichst alte und möglichst dicke. Und meist dreht er es so, dass diese Baumdenkmäler auch noch Bäume des Jahres sind. Als Mitglied im Kuratorium, das dieses Prädikat vergibt, weiß er rechtzeitig Bescheid über den neusten Titelträger. Als sich bei der Wahl des 2018er- Baums die Ess-Kastanie gegen Kornelkirsche und Amberbaum durchsetzte, war das nächste Urlaubsziel klar: England.

Die Ess-Kastanie ist ein Gewächs des Südens. Ihre Kulturgeschichte beginnt am Mittelmeer. Die alten Römer etablierten den Baum in Germanien, als Fruchtspender und Lieferant besonders zähen Holzes, vor allem für den Weinbau. Heute ist die Art in weiten Teilen Deutschlands noch immer selten. Das Kuratoriumsflugblatt zur Ess-Kastanie ziert ein englischer Baum, etwa 700 Jahre alt. Andreas Roloff hat ihn im Urlaub fotografiert, südlich von London. Klimatisch dürfte die Insel der Ess-Kastanie kaum zusagen. Vielleicht, sagt Roloff, ist es ja das gelassene Verhältnis der Engländer zu großen, alten Bäumen, das sie wachsen lässt. Die Deutschen seien da eher vorsichtig. „Bei uns wird mehr gesägt.“

Eine Kastanie für hundert Reiter

Der Baumprofessor greift Jacke und Schal. Es geht hinaus, in seinen Garten. Etwa 50 000 Gehölze – ganz grob geschätzt – enthält die Pflanzensammlung. Das dickste davon ist eine Ess-Kastanie. Sie steht oben, am sogenannten Plateau, ist rund 180 Jahre alt und schon ordentlich knorrig, mit vielen abgestorbenen Ästen. Die Säge braucht der Baum, im Gegensatz zu drei- bis viertausend anderen, die jedes Jahr kritisch auf Verkehrssicherheit geprüft werden, kaum zu fürchten. Das Totholz in der Krone bleibt, wo es ist. Der Bereich darunter wurde vorsorglich abgesperrt.

Alte Ess-Kastanien haben die Eigenart, erst ein bisschen zu sterben und dann wieder ein bisschen zu leben. Dabei werden sie kürzer und dicker. Im Wechsel von Tod und neuem Austrieb können sie ein Jahrtausend überdauern. Wie genau sie das anstellen? Da muss selbst der Professor passen. „Was da stattfindet, weiß keiner so genau.“ Seit letztem Sommer hat er in seiner Sammlung auch das Foto der „Kastanie der 100 Pferde“ vom Osthang des Ätna, so bezeichnet, weil der Sage nach einst hundert Reiter unter ihrer Krone Schutz vor einem Unwetter fanden. Das Alter des Gewächses wird auf mindestens 2 000 Jahre geschätzt. Die verbliebenen Fragmente lassen den Schluss zu, dass der Baum einen Umfang von 60 Metern gehabt haben könnte, damals der wohl dickste Baum der Welt.

Das Bild von der Pferde-Kastanie hat Andreas Roloffs Sekretärin aufgenommen. Als Roloff hörte, dass sie Urlaub auf Sizilien plant, hat er sie zu diesem Abstecher überredet. Ja, er weiß andere mit seiner Baumbegeisterung anzustecken. Das ist Absicht. Sein neues Buch heißt „Der Charakter unserer Bäume“. Darin schreibt er mit wenig Fachjargon, dafür mit viel Gefühl, welche Bäume die Menschen ansprechen und warum. Mit dabei auch die Ess-Kastanie und gut zwei Dutzend weitere Bäume des Jahres. „Immer mehr Menschen möchten die Bäume verstehen lernen“, sagt der Professor. Mit seinem Buch scheint er den Nerv getroffen zu haben. „Ich bekomme ganz tolle Rückmeldungen.“

Die Dächer Tharandts sind längst entschwunden, hier, im höchstgelegenen Teil des Forstgartens. Plötzlich öffnet sich ein Rund, in dessen Mitte, wie eine Skulptur, der Riese steht. Eiben, Fichten und Lebensbäume halten respektvolle Distanz. Menschen sollten das auch tun. „Kein Zutritt!“, warnen Schilder. Andreas Roloff geht ausnahmsweise ganz nahe zum Stamm, rollt das Maßband aus. Es dauert eine Weile, bis er den mächtigen, mit netzartiger Borke bewehrten Stamm umkreist hat. Fünf Meter und drei beträgt der Umfang. Laut Datenbank der Dendrologischen Gesellschaft, die Deutschlands dickste Bäume sammelt, wäre das sachsenweit Platz vier.

Die Rekordkastanie von Tharandt ist kleiner als ihre Nachbarn, sechzehn, siebzehn Meter vielleicht. Derart geschützt, haben ihr die jüngsten Stürme nichts ausgemacht. Früher aber ist so mancher Ast gefallen. Knollen und Narben bezeugen die Wechselfälle dieses Baumlebens. Vielleicht wohnt in der einen oder anderen Höhlung zuweilen eine Fledermaus oder der Waldkauz. Leider hat sich auch der Schwefelporling hier eingenistet, ein ziemlich resoluter Holzzerstörer. Wie es nun weitergeht? Das überlässt Professor Roloff ganz dem Baum. „Er kann hier leben oder sterben, wie es ihm passt.“