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Das Geheimnis der Königsbrücker Heide

Die sowjetischen Atomraketen in der Lausitz waren bisher kaum erforscht. Der Geschichtsverein hat das geändert.

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© Wolfgang Schmidt

Von Nicole Preuß

Königsbrück. Das war eine Aufregung. Züge mit vielen Hängern waren an diesem kalten Februartag am Bischofswerdaer Bahnhof aufgefahren. Planen verdeckten das, was sie geladen hatten. Politiker, Soldaten, Anwohner – alle waren gekommen. Sie wussten, was sich unter den Planen verbarg: sowjetische Atomraketen.

Christof Schuster (r.) ist einer der Autoren, Heiko Berthold von Mediadesign übernahm den Druck und Karina Klotsche die grafische Gestaltung.
Christof Schuster (r.) ist einer der Autoren, Heiko Berthold von Mediadesign übernahm den Druck und Karina Klotsche die grafische Gestaltung. © René Plaul

Der Abzug der Raketen war der sichtbare Abschluss einer geheimen Mission. Manche ahnten es. Aber kaum einer wusste in den Jahren zuvor, dass in der Königsbrücker Heide und im Taucherwald Atomraketen mit mittlerer Reichweite, SS-12, stationiert waren. Der Abzug der Raketen, der unter anderem in dem Abrüstungsvertrag zwischen Ronald Reagan und Michail Gorbatschow ausgehandelt worden war, machte damit etwas öffentlich, was in der Folge trotzdem nie richtig erforscht wurde.

Das hat der Geschichtsverein Truppenübungsplatz Königsbrücker Heide nun geändert. Er hat in jahrelanger Recherche und Schreibarbeit ein Buch auf den Weg gebracht, das sich mit diesem Kapitel des Truppenübungsplatzes beschäftigt und dabei manches herausgefunden, was auch Militärhistoriker beachtenswert finden. Es ist das zweite Mal nach einem Buch mit Postkartenmotiven vom Truppenübungsplatz, dass der Geschichtsverein ein Buch in Eigenregie veröffentlicht.

1200 Exemplare wurden gedruckt. Das Thema lohnt sich, findet der stellvertretende Vorsitzende Christof Schuster, der das Buch mit Matthias Karthe und Thomas Petzold geschrieben und recherchiert hat. „Für uns war es eine Herzensangelegenheit, endlich einmal Licht in die Sache zu bringen“, sagt er.

Das Thema führt zurück in das Jahr 1984. Die Nato stationierte damals auf Grundlage des Nato-Doppelbeschlusses nukleare Mittelstreckenraketen in Europa und auch in der BRD. Das war ein Affront gegen die Sowjets, die auch darauf antworteten. Sie verlegten Atomraketen in die DDR, unter anderem nach Königsbrück und Bischofswerda. Das musste weitgehend unbemerkt geschehen.

Transporte gab es nur in der Nacht, wenn die Amerikaner die Bewegungen nicht über Satelliten ausspähen konnten. Im Taucherwald bei Bischofswerda wurde die Veränderung trotzdem noch eher bemerkt als in Königsbrück. Der Wald, der noch vor Kurzem frei zugänglich war, wurde abgeriegelt. Informationen darüber, warum das geschah, hatte noch nicht einmal der Bürgermeister. Der Truppenübungsplatz bei Königsbrück war sowieso nicht zugänglich, deshalb fiel die Bewegung nicht besonders auf. Auch gebaut werden musste dort nur wenig. Die 119. Raketenbrigade zog in die Gebäude einer Artilleriebrigade, die im Herbst zuvor auf den Truppenübungsplatz nach Zeithain verlegt worden war.

Sowjets haben erzählt

Die Raketenbrigade brachte 24 Raketen und die zugehörigen nuklearen Sprengköpfe mit. Eine einzige gezündete Rakete hätte eine Zerstörungskraft von 500 Kilotonnen gehabt. So eine Rakete hätte, gerichtet auf die Region, bei einer Luftdetonation in 1200 Metern Höhe Königsbrück, Gräfenhain, Laußnitz und Schmorkau total zerstört. Große Schäden hätte es bis nach Zeisholz, Schönbach, Ottendorf-Okrilla und Bischheim gegeben. Das Leid wäre unendlich gewesen und die Spätfolgen für die wenigen Überlebenden mit Krebserkrankungen nicht zu übersehen.

Die Sowjets richteten die Raketen mit hoher Wahrscheinlichkeit aber auf die nuklearen Mittelstreckenraketen-Stellungen in der BRD und den angrenzenden Ländern. 900 Kilometer hätten die Kernwaffen fliegen können. Drei Abteilungen gehörten zur Brigade. Zwei von ihnen waren in der Königsbrücker Heide, eine im Taucherwald stationiert.

Ein extra gezogenes Fernmeldekabel verband die Stützpunkte. Eine von diesen Abteilungen war immer sofort gefechtsbereit und konnte die Raketen, die auf mobilen Rampen bereitlagen, gleich von dort aus starten. Vier solcher Startrampen, beladen mit je einer Rakete, hatte jede Abteilung, vier weitere Raketen lagen für den zweiten Schuss bereit. Die Aufteilung der Brigade und der Technik auf zwei verschiedene Standorte sollte das Risiko minimieren, dass mit einem Schlag der Gegenseite die ganze 119. Raketenbrigade ausgelöscht wird. Dann hätte man noch die Raketen im Taucherwald oder in der Heide gehabt. Gott sei Dank, kam es nicht dazu.

Der Geschichtsverein hat sich intensiv mit verschiedenen Quellen befasst und in den Dokumenten der Archive gelesen. Der Verein hatte auch Gelegenheit, Kontakte aufzubauen und mit ehemaligen sowjetischen Soldaten über ihre Zeit in der Raketenbrigade zu sprechen. Manche von ihnen sind inzwischen gestorben, wie Nikolai Skiba, dem im Buch ein besonderer Dank ausgesprochen wird.

Viele der ehemaligen Militärs erkrankten an Krebs, auch weil sie so intensiv mit den strahlenden Sprengköpfen zu tun hatten. Die Gefahr, die von diesen Sprengköpfen für die Region ausging, schätzt Christof Schuster vom Geschichtsverein trotzdem erst einmal als gering ein. „So ein Sprengkopf kann vom Haus fallen, da passiert erst einmal nichts“, sagt er. Die Raketen mussten zunächst zusammengebaut und dann aufwendig ausgerichtet werden.

Der letztliche Befehl zum Abschuss sollte im Ernstfall vom Oberkommando in Moskau kommen. Die Gefahr war aber natürlich trotzdem gegeben, weil es die Region zu einem potenziellen Ziel der Atomraketen der Amerikaner machte. Eine Pershing-II-Rakete, die über dem Taucherwald detoniert wäre, hätte die gesamte Gegend bis nach Panschwitz-Kuckau, Göda und Rammenau zerstört, haben die Fachleute des Geschichtsvereins berechnet.

Ärzte, Wachleute, Mechaniker

Ein Kapitel widmete sich dem Leben der Soldaten der Brigade. Auch diese Umstände waren bisher kaum bekannt. Circa 300 Leute gehörten zu einer Abteilung, Ärzte waren genauso darunter, wie Wachleute, Mechaniker, Versorgungsmitarbeiter und Ingenieure. Eine Abteilung hatte immer Gefechtsdienst für 30 Tage. In dieser Zeit durften die Soldaten keinen Urlaub nehmen und mussten bei den Bunkern hausen. Sie schliefen bei Wind und Wetter in Zelten, später wurde noch mit dem Bau von einfachen Unterkunftsgebäuden bei den Feuerstellungen begonnen. Eine Abteilung, die abgelöst wurde, nahm die Raketen wieder mit in den Garnisonsstandort. Geübt wurde ständig, aber in der Regel nur mit Übungsraketen und nicht mit scharfen Sprengköpfen. Ein unzulässiger Zwischenfall wird in dem neuen Buch des Geschichtsvereins beschrieben.

Die Unterkunftsgebäude wurden nur wenige Monate genutzt. Im Februar 1988 brachten die Militärs die Atomraketen aus der Heide über spezielle Verladerampen für Militärtechnik in Schwepnitz zum Bahnhof in Bischofswerda. Dort waren Einwohner und viele Pressevertreter versammelt. Die Raketen traten ihre letzte Reise in die Sowjetunion an, wo sie verschrottet wurden. Den Tarnnamen der Brigade „Kolybel“ hat der Geschichtsverein in einem der Bunker entdeckt und die Faktensammlung danach benannt.

Geschichtsverein Truppenübungsplatz Königsbrück: Tarnname Kolybel. Sowjetische Atomraketen in der Oberlausitz, 200 Seiten, 124 Abbildungen, Preis: 24,95 Euro.