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Das Glück der kleinen Dinge

Die Neustadt ist nur was für junge Leute? Ach, i wo. Das Viertel ist der beste Ort, um alt zu werden, sagt die 71-jährige Elke Jung. Sie mag es nicht nur in ihrer Wohnung bunt.

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© kairospress

Anna Hoben

Früher, zu DDR-Zeiten, gab es bei Bui keine Tulpen. Heute gibt es Tulpen. Und weil Elke Jung Tulpen liebt, ist sie Stammkundin bei Bui, dem bekannten Vietnamesen mit dem kleinen Gemischtwarenladen auf der Louisenstraße in der Dresdner Neustadt. „Bui war schon immer da“, sagt die 71-Jährige. Eine Konstante in dem Gründerzeit-Stadtviertel, das sich wie kaum ein anderes in Dresden gewandelt hat in den letzten Jahrzehnten, vom unsanierten Arbeiterquartier zum begehrten Wohnort für Künstler und Kreative, Studenten und junge Familien. Wissen Sie eigentlich, was ein Hipster ist, Frau Jung? „Sagt mir gar nichts.“ Und plötzlich gerät man selbst in Erklärungsnöte. Städtische Subkultur, Vollbart, enge Jeans, Jutebeutel. „Aha“, sagt Elke Jung, „ich gebe nicht so viel auf Äußerlichkeiten“. Klare Ansage, und irgendwie ist es ja auch viel hübscher, was ihr selbst einfällt, wenn es um Veränderung in der Neustadt geht: Bei Bui gibt es nun Tulpen.

Elke Jung ist keine Früher-war-alles-besser-Sagerin. Im Gegenteil. Sie ist verankert im Hier und Jetzt. Früher war nämlich gar nicht alles besser, sondern vieles schlechter in der Neustadt. Die Wohnung war kalt. Die Toilette befand sich im Treppenhaus. In der Wohnung gab es nur ein Waschbecken, in der Küche. Zweimal haben sie inzwischen das Haus saniert, Elke Jung hat Platz dazubekommen, ein schönes Bad, einen Balkon, auf dem sie im Sommer regelmäßig frühstückt. Sie blickt dann auf ein altes Fabrikgebäude, in dem zu DDR-Zeiten eine Wäscherei untergebracht war. Noch früher wurde dort Schokolade hergestellt. Elke Jung mag Schokolade. Auf der Tafel mit der Einkaufsliste in ihrer Küche steht sie direkt unter Obst und Joghurt.

Ursprünglich kommt Elke Jung von der Küste, aus Rostock. „Wir waren eine große Familie, eine richtige Sippe.“ Eines Tages lernte sie einen Mann aus Dresden kennen. Sie heirateten, und 1968 kam ihre Tochter Ulrike zur Welt. Zwei Jahre später zogen sie nach Dresden. Die Ehe hielt nicht lang. Nach der Trennung von ihrem Mann suchte Elke Jung eine neue Wohnung für sich und das Kind. Von der Neustadt rieten alle ab. Ihr Bruder, der ebenfalls in Dresden wohnt, sagte: „Dort zieht man nicht hin, schon gar nicht mit Kind.“ Ein Kollege aus Mecklenburg fand: „In der Neustadt sprechen sie noch schlimmer Sächsisch als in anderen Stadtvierteln.“ Die alleinerziehende Mutter probierte es also zunächst im Stadtteil Pieschen. Doch die Wohnung war kalt und dunkel, statt richtiger Fenster gab es nur Dachluken. „Es blieb gar nichts anderes übrig, als wieder umzuziehen.“

Eine Neubauwohnung im Plattenbau, das war zu jener Zeit der Wunschtraum von vielen, auch von Elke Jung. Es war ein unerreichbarer Traum. Heute sagt sie: „Niemals würde ich in einem Plattenbauviertel wie Gorbitz oder Prohlis wohnen wollen.“ 1977 zog sie mit ihrer Tochter in die Wohnung am Rand der Äußeren Neustadt, in der sie heute noch lebt. „Das war fast wie im Paradies plötzlich.“ Nächstes Jahr feiert sie 40-jähriges Neustadt-Jubiläum. „Wenn jemand fragt, wo ich herkomme“, sagt Elke Jung, „müsste ich sagen, ich bin Dresdner. Schließlich habe ich den größten Teil meines Lebens hier verbracht“.

Sport hatte sie eigentlich studieren wollen, in Leipzig, doch das klappte nicht. Also hatte sie sich für Bibliothekswesen entschieden. Nur knapp 20 Minuten waren es zu Fuß von ihrer Wohnung zum damaligen Standort der Sächsischen Landesbibliothek in einem alten Kasernengebäude, wo sie an der Ausleihe saß oder an der Katalogauskunft. Nach der Wende kümmerte sie sich zusätzlich um die neuen Auszubildenden. 2002 zog die Bibliothek in die Südvorstadt um, von da an nahm sie die Straßenbahn. Ein Auto hat sie nie besessen. Man bekommt ja nur unnötig Ärger mit so einem Auto. Im Hof ihres Hauses hat der Eigentümer zwar Parkplätze hingebaut. Doch einige Nachbarn haben sich beschwert, jetzt liegt die Sache vor Gericht. Bis sie geklärt ist, darf kein Bewohner die Parkplätze nutzen. Elke Jung guckt vom Balkon runter auf den leeren Hof und denkt sich ihren Teil.

Sie hat immer gern gearbeitet. Doch sie hat sich auch gefreut aufs Aufhören. Jetzt ist die Zeit, in der sie tun und lassen kann, was sie will. Ein bisschen wie ein langer Urlaub. Ihre Schwägerin ist da anders. Langweilig sei ihr ohne die Arbeit. Auch von anderen Bekannten hört sie das. Ihnen sagt Elke Jung: „Ihr macht was falsch.“ Immer nur arbeiten, ein Leben lang? Das kann nicht der Sinn der Sache sein. Als sie im Jahr 2005 ihre Altersteilzeit antrat, lag neben ihrem Bett ein Stapel Bücher, die sie schon immer lesen wollte. Heute ist sie selber Kundin in der Stadtteilbibliothek. Leichte Lektüre mag sie, Krimis. „Wenn ich etwas ganz Schönes finde, kaufe ich auch mal ein Buch, aber das ist selten.“

Prießnitzstraße, das ruhige Ende der Neustadt. Auf der Haustür prangen für Neustadtverhältnisse nur dezente Graffitikrakeleien. Es geht drei Treppen hoch, sie führen bis fast unters Dach, direkt in die 80 Quadratmeter große Welt von Elke Jung. Links geht es in die auffällig bunte Küche. Kalenderblätter an den Wänden, Utensilien auf offenen Regalbrettern, eine Muschelkette als Erinnerung an die Heimat neben der Balkontür. Zum Frühstück bereitet sie sich hier Kaffee zu, dazu ein paar Kekse. Dann schickt sie ihrer Tochter Guten-Morgen-Grüße aufs Handy. Sie denkt sich immer neue Formulierungen aus. Heute: „Ich wünsche dir einen schönen, schnell vergehenden Tag. Bis bald. D. Mu.“ Das steht für „Deine Mutti“. Ulrike lebt mit ihrem Mann in der Nähe von Koblenz. Fast jeden Abend telefonieren sie. „Der enge Kontakt ist mir wichtig.“ Sieben Stunden fährt sie mit dem Zug, wenn sie die Tochter besuchen will.

Seit einiger Zeit fragt Ulrike sie immer wieder mal: „Die große Wohnung, schaffst du das denn?“ Noch schafft sie es. Außerdem hat sie sich vorgenommen, jeden Tag rauszugehen, und zwar nicht nur zum Briefkasten. Die drei Treppen zur Wohnung sind der Gradmesser. Solange sie die täglich schafft, runter und wieder hoch, so lange bleibt sie hier wohnen. Kurze Wege: zum Supermarkt, zur Bibliothek, zum Arzt, zur Apotheke. „Die Neustadt ist perfekt für alte Leute.“ Ihr gefällt es dort im Grunde umso besser, je älter sie wird.

Ihre Neustadt, das ist das Lebensmittellädchen des Vietnamesen Bui, ihre Neustadt ist die Louisenstraße. „Da gibt es viele Cafés, da setze ich mich gern mal rein.“ Ihre Neustadt ist die Martin-Luther-Kirche, in deren Gemeinde sie sich engagiert, in der Offenen Kirche. Dabei kommt sie mit vielen Menschen ins Gespräch. Wenn sie vormittags rausgeht, setzt sie sich aufs Fahrrad und dreht eine große Runde, an der Elbe entlang Richtung Radebeul oder in die Altstadt. Sie liebt die Kreuzkirche, es ist ihr Gefühlsort. „Wenn ich da sitze, könnte ich manchmal laut lachen und manchmal heulen.“ An anderen Tagen dreht sie nur eine kleine Runde durch die Neustadt. Wenn sie zurückkommt, gibt es ein spätes Frühstück. Abends kocht sie. Als sie in Rente ging, stellte sie ihre Ernährung um und nahm einige Kilo ab. Heute lebt sie gesünder und fühlt sich wohler in ihrem Körper als während ihrer Berufstätigkeit.

Ihre Neustadt ist nicht das Partyvolk, das am Wochenende einfällt und spätnachts volltrunken und laut durch die Straßen zieht. Ihre Neustadt ist nicht Graffiti. „Das finde ich schrecklich, weil es mir leid tut für die Eigentümer. Eine Sonnenblume wäre vielleicht schön, aber alles andere, da muss man drüber hinwegsehen.“ Ihre Neustadt ist nicht die Kreuzung Görlitzer, Rothenburger und Louisenstraße, deren Bürgersteige bei Temperaturen ab zehn Grad Abend für Abend von jungen Menschen mit Bierflaschen in den Händen besetzt sind. „In der Neustadt kann man als alte Frau ruhig auch abends mal rausgehen“, findet Elke Jung. Die berüchtigte Ecke jedoch meidet sie. Sie hätte Angst, sich dort dumme Bemerkungen einzufangen.

Die Gedanken daran, was ist, wenn sie es nicht mehr schafft, allein klarzukommen, werden häufiger. Sie hat schon mal im Internet geschaut, nach Heimen in der Nähe ihrer Tochter. Sie hätte kein Problem damit, ins Heim zu gehen. Bei Ulrike zu Hause einziehen? Will sie ihr nicht zumuten. In ihrem Haus ist Elke Jung die Älteste, mit Abstand. Die anderen Bewohner: junge Familien. Es gibt zwei Türen, an denen sie jederzeit klingeln könnte.

Dass sie alt wird, das merkt Elke Jung auch an diesem Handy, das sie gerade mal wieder nicht finden kann. Vor einem Jahr hat die Tochter ihr das Smartphone besorgt, und seitdem ist sie ihm in inniger Hassliebe verbunden. Oft will das Gerät nicht so, wie sie will. Einmal hat sie es deshalb in einem Anflug von Wut gegen die Sofalehne geschleudert. Doch wenn sie draußen Fotos damit macht oder ihrer Tochter Whatsapp-Nachrichten schickt, dann schätzt sie seine Vorteile.

Mittagszeit. Von der Martin-Luther-Kirche tönt Glockenläuten herüber. Es mischt sich mit Kinderlachen und -rufen. Von ihrem Balkon aus schaut Elke Jung auf einen Schulhof. Ein Kindergarten ist direkt nebenan. Ob die Neustadt sie besonders tolerant gegenüber Kinderlärm gemacht habe? Ob sie Kinderlärm mag? „Nee“, sagt Elke Jung in ihrer direkten norddeutschen Art. Aber Kinder mag sie natürlich. Vor allem dann, wenn sie gut erzogen sind. „Ich bin altmodisch, konservativ.“ Soll heißen: Sie erwartet, dass Kinder grüßen.

Elke Jung hat keine Enkel. Wie kleine Menschen heute ticken, das bekommt sie durch die Nachbarskinder mit. Manchmal wundert sie sich. Über die riesigen Familienkutschen, mit denen die Kleinen an der Schule vorgefahren werden. Und über den Freizeitstress, dem die Kinder heute ausgesetzt sind. „Ich glaube, die Erwartungshaltung mancher Eltern ist heute zu hoch. Die Kinder müssen zum Sport, dann zum Geigenunterricht, dann zum Klettern.“

Dass sie alt wird, merkt Elke Jung daran, dass der Freundeskreis kleiner wird. „Die Leute fangen an zu gehen.“ Ehemalige Kolleginnen sieht sie nur noch bei Beerdigungen. Manchmal fehlen ihr andere ältere Menschen in der Neustadt. Aber nur manchmal. Einmal hat sie ein Konzert in der St.-Pauli-Ruine im Hechtviertel besucht, um sie herum nur junge Leute. „Es war unsagbar schön.“ Mit dem Fahrrad fuhr sie danach beschwingt durch die Nacht nach Hause. Eine Alten-WG, sagt Elke Jung, käme für sie nie infrage. „Da sind mir die Jungen doch lieber.“

Nur von Zeit zu Zeit gibt es diese Begegnungen der ärgerlichen Art. Ein junger Kerl rempelt sie im Supermarkt an, sie sagt „na, na“, er sagt, „vergiss nicht, ich arbeite für deine Rente“. Wenn so ein Rüpel sie duzt, das kann sie gar nicht leiden. Sie duzt dann zurück und sagt: „Meine Rente hab’ ich mir selber verdient, arbeite du erstmal 40 Jahre.“ Meistens ist dann Ruhe.

Dass sie alt wird, merkt Elke Jung an ihrer Gelassenheit. „Im Alter bin ich offener geworden, selbstbewusster und auch entspannter.“ Vergangenes Weihnachten hat sie allein gefeiert, weil ihr die Reise nach Koblenz zu viel war. Sie hörte viel Musik und Radio, sie las, guckte kaum Fernsehen. „Es war schön.“ Und überhaupt nicht einsam. „Dass ich mich einsam fühle“, sagt Elke Jung, „kommt selten vor.“

Man muss sie sich als glücklichen Menschen vorstellen. Ob sie auch mal schimpfe? Denkpause. „Vielleicht mal, wenn der Zug zu spät kommt.“ Denkpause. „Aber beim letzten Mal habe ich am Ende den Fahrpreis erstattet bekommen, und da war es auch wieder gut.“ Nein, sagt Elke Jung, sie wüsste beim besten Willen nicht, warum sie meckern sollte. In ihrem Regal stehen Karten für ein Konzert im Jahr 2017, Ina Müller. Sie hofft auf viele plattdeutsche Lieder. Auf ein Stück Heimatgefühl.

››› Dieser Beitrag ist Teil der Senioren-Serie „Was geht, Alter?!“

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