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Das große Missverständnis

Journalisten sehen die Flüchtlingskrise mit anderen Augen als viele ihrer Leser und Zuschauer.

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© momentphoto.de/bonss

Von Attila Albert

Viele Journalisten aus den großen Redaktionen in Hamburg, München, Frankfurt und Berlin sind in den letzten Monaten nach Sachsen gereist, um „mit den Menschen“ zu sprechen. Liest man anschließend ihre Berichte oder sieht ihre Fernsehbeiträge, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, ethnologische Gutachten vor sich zu haben: Sie waren zu Besuch bei einem fremden Volk – irgendwie verwandt, aber doch von einer anderen Art.

Attila Albert, geboren 1972, hat als Journalist ab 1989 für die Freie Presse gearbeitet, später für Bild, u.a. in Chemnitz und Dresden. Heute lebt er als Autor und Mediencoach in Zürich.
Attila Albert, geboren 1972, hat als Journalist ab 1989 für die Freie Presse gearbeitet, später für Bild, u.a. in Chemnitz und Dresden. Heute lebt er als Autor und Mediencoach in Zürich.

Die Sprache schien gemeinsam, doch vor Ort zeigte sich eine Ernüchterung: Die Worte meinen etwas anderes, ganz besonders die Worte „Flüchtling“ und „Ausländer“. Und daraus speist sich, ganz unbemerkt, der größte Konflikt in der öffentlichen Flüchtlingsdiskussion.

Wer als Journalist in einer westdeutschen Großstadt arbeitet, vielleicht bei einem Hamburger Magazin und mit Blick auf die Elbe, irgendwo zwischen 25 und 45 Jahre alt ist, denkt beim Begriff „Ausländer“ an sein Erasmus-Studium, an internationale WG-Freunde, an Auslandsreisen, den Wein und die guten Abendessen im Portugiesenviertel. Der Fremde ist ihm Freund und Bereicherung.

Wer als Demonstrant auf dem zugigen Dresdner Theaterplatz steht und ein Pegida-Plakat hochhält, der denkt beim gleichen Wort an Kleinkriminalität in schwächeren Stadtteilen, an noch mehr Verdrängung bei günstigen Wohnungen und einfachen Arbeitsplätzen. Er sieht im Fremden den Feind und Konkurrenten.

Noch die Generation der Großeltern hat, was schnell vergessen ist, im Krieg gegen Fremde gekämpft und umgekehrt die Bombardierungen miterlebt. Nun halten ihnen Menschen die Mikrofone hin, in deren Wohlstandsbiografien die Scheidung der Eltern das dramatischste Ereignis war.

Das Italienische Dörfchen mag sich in der Elbe spiegeln, doch es ist nur opernhafte Kulisse: Das Fremde gehört nicht zu Dresden, in der Stadt leben 4,7 Prozent Ausländer. In Hamburg, einige Stunden den Fluss hinauf, ist der Anteil dreimal so hoch.

Die Kluft zeigt sich nicht nur in den Statistiken, sie zeigt sich in den Assoziationen. Und die Grenze liegt nicht zwischen Ost und West: Sie liegt zwischen den Jungen und Erfolgreichen und den Älteren und sozial Schwachen – und damit vielfach zwischen Journalisten und denen, über die sie berichten. Das prägt die Berichterstattung auf bedenkliche Weise.

Wer heute Journalist bei einem überregionalen Medium ist, kommt mehrheitlich aus guten Verhältnissen, ist Akademiker und gehört, wie es eine Studie der Universität München zeigte, „modernen, postmaterialistischen Schichten“ an. Das bedeutet: Geld ist nachrangig, Selbstverwirklichung wichtiger. Man kann monatelang ein Praktikum machen, weil bei Bedarf die Eltern die Miete überweisen, wer später seinen Vertrag hat, verdient gut.

Die Nöte derer, über die man schreibt, scheinen vielfach nur auf, wenn einmal eine Sozialreportage zu recherchieren ist. Wer denkt im klimatisierten Großraumbüro daran, warum auf deutschen Baustellen seit Jahren keine deutschen Arbeiter mehr zu finden sind oder wieso in Fastfood-Restaurants heute so viel ausländisches Personal arbeitet?

Soziologisch sind Journalisten den Politikern, also denen, über die sie kritisch berichten sollten, näher als ihren Lesern. Im Bundestag sitzen 84 Prozent Akademiker, Juristen und Lehrer sind in der Mehrheit. Durchschnittliches Monatsgehalt: mehr als 9 000 Euro.

So ist die Flüchtlingsdiskussion also von einem merkwürdigen Phänomen geprägt: Es wird über das Gleiche gestritten, aber an völlig Unterschiedliches gedacht – zwei konträre Teilerfahrungen treffen aufeinander. Das erklärt den belehrenden, herablassenden Ton in Politik und Medien, andererseits die Wut und Empörung darüber.

Man erinnere sich beispielhaft an die Reisen der ZDF-Journalistin Dunja Hayali vor einiger Zeit nach Ostdeutschland. Sie besuchte eine AfD-Kundgebung in Erfurt, später diskutierte sie mit Gymnasiasten in Heidenau. Die Branche lobte, sie habe „Haltung“ gezeigt. Der Mediendienst DWDL, ansässig in Köln: „Ein Glücksfall fürs deutsche Fernsehen.“ Nach allgemeiner Einschätzung sei sie offen und interessiert gewesen, in den Videos sah man sie im Gespräch mit Demonstranten. Allerdings stellte sie sich so vor: „Meine Eltern kommen aus dem Irak. Haben Sie ein Problem mit mir?“ In Heidenau saß sie neben Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) und urteilte, Flüchtlingsgegner seien „rechter Abschaum“. Ein löbliches Engagement, doch solch eine Journalistin ist keine Berichterstatterin, sondern Partei – politische Aktivistin in eigener Sache.

Viele ähnliche Fälle ließen sich aufzählen, man lese nur, wie sich die Redaktionen von „Monitor“, „Panorama“, „Extra 3“ oder den bundesdeutschen Feuilletons auf Facebook positionieren. In der Gesamtschau ergibt sich das Bild einer Einigkeit zwischen Journalist und Politik, die auf den störrischen, gar unbelehrbaren Ostdeutschen einreden. Der Ausländer scheint dabei näher als der eigene Landsmann, mindestens aber vergleichbar: Man hätte 1989/90 ja auch die Ostdeutschen aufgenommen – völlig unverständlich und undankbar, dass sie sich jetzt so ablehnend zeigten.

Viel ist in der Berichterstattung von „Ängsten“ die Rede, und allein dieser Begriff suggeriert etwas Unberechtigtes und Pathologisches, dem mit genügend Aufklärung hoffentlich beizukommen sei. Die andere Möglichkeit, dass die Demonstranten nämlich tatsächlich eine traditionellere, homogene Gesellschaft beibehalten wollen, ist beiseitegewischt und abgewertet.

Die ostdeutschen Regionalzeitungen und Lokalausgaben bundesweiter Medien finden sich dabei in der schwierigsten Situation wieder: Sie müssen ausbalancieren, was ihre eigenen Belegschaften und deren Familien entzweit. Ich selbst habe ab 1989 als Journalist in Ostdeutschland gearbeitet, erst in meiner Heimatstadt Chemnitz, später in Dresden, und erlebt, wie mühevoll die ehemaligen Parteizeitungen und Neugründungen das Vertrauen ihrer Leser erarbeitet haben. Jetzt sind sie in der ganz ähnlichen Situation.

Was ist nun der Ausweg aus diesem Dilemma? Zuerst wohl, beide Perspektiven als berechtigt zu akzeptieren und sich darüber klar zu werden, wie verwaschen Begrifflichkeiten wie „Flüchtlinge“ sind. Sie suggerieren eine Gleichheit in einer Personengruppe von nun 1,1 Millionen Menschen, wo keine ist. Das könnte eine Diskussion erlauben, die weniger emotional ist und in ausgleichenden Kategorien wie Nutzen und Belastbarkeit denkt.

Ich habe die Dresdner als wunderbare Menschen erlebt und als leidenschaftliche Verteidiger ihrer Stadt und reichen Kultur. Für einen Journalisten könnte es die größte Einsicht sein, zu sehen, dass da nicht nur Menschen aus „Hass“ demonstrieren, sondern ganz im Gegenteil: Aus Liebe und Sorge um etwas, das sie nicht verlieren wollen.

Attila Albert, geboren 1972, hat als Journalist ab 1989 für die Freie Presse gearbeitet, später für Bild, u. a. in Chemnitz und Dresden. Heute lebt er als Autor und Mediencoach in Zürich.

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die Sächsische Zeitung kontroverse Texte, die Denkanstöße geben, zur Diskussion anregen sollen.