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Der Fall Gysi: Eine offene Wunde - bis zur letzten Instanz

Berlin - Manchmal muss Gregor Gysi eben in die letzte Instanz. In seinem Lieblingslokal gibt es alles, was der Anwalt braucht. Vom „Plädoyer“ bis zur „Urteilsverkündung“. So heißen die Gerichte im Restaurant „Zur letzten Instanz“, der angeblich ältesten Berliner Gaststätte im Osten der Stadt.

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Von Kristina Dunz

Berlin - Manchmal muss Gregor Gysi eben in die letzte Instanz. In seinem Lieblingslokal gibt es alles, was der Anwalt braucht. Vom „Plädoyer“ bis zur „Urteilsverkündung“. So heißen die Gerichte im Restaurant „Zur letzten Instanz“, der angeblich ältesten Berliner Gaststätte im Osten der Stadt. Gysi bestellt an diesem Abend das „Beweismittel“ - Kohlroulade mit Püree. Er sitzt erstmals gemeinsam mit beiden Söhnen seiner berühmtesten Mandanten, den inzwischen gestorbenen DDR-Dissidenten Rudolf Bahro und Robert Havemann, an einem Tisch. Es geht um seine Rolle als Rechtsanwalt in der DDR und den Vorwurf, er habe vor 30 Jahren als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Stasi seine Klienten verraten.

Seit 1992 klebt diese Anschuldigung an Gysi. So wenig wie seine Gegner sie belegen können - eine Unterschrift von ihm unter einer Verpflichtungserklärung liegt nicht vor, auch keine Registrierung als IM -, so schwer ist es für den Bundestagsfraktionschef der Linken zu beweisen, dass er nicht für die Stasi gearbeitet hat. Die Leiterin der Stasi-Unterlagenbehörde, Marianne Birthler, sagt, Gysi habe „willentlich und wissentlich“ für die Stasi gearbeitet. Weggefährten berichten, kaum etwas treffe Gysi so schwer in seiner Würde und in seiner Berufsehre wie dieser Vorwurf. Eine offene Wunde.

Gesundheit hat gelitten

Der 60-Jährige deutete in einer denkwürdigen Parlamentssitzung Ende Mai an, dass die seit Jahren andauernde Debatte ihm gesundheitlich geschadet habe. Der sonst so begnadete Redner las vom Blatt ab, musste mehrfach schlucken. Er habe - auch wegen seiner gesellschaftlichen Stellung - gar keine Kontakte zur Stasi gebraucht, schleuderte er seinen Kritikern entgegen. Schließlich habe er mit der Abteilung Staat und Recht des Zentralkomitees der SED über seine Mandanten gesprochen.

Offenbar verunsichert, ob dies Arroganz, eine Offenbarung oder eine schlichte Mitteilung war, lachten viele Abgeordnete höhnisch. Der CDU-Politiker und Rechtsanwalt Thomas Strobl schäumte, Gysi habe für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) gearbeitet und in „gemeinster Weise ... liederlichsten Verrat an seinen Mandanten“ begangen. Gysi zischte, dass Strobl und Kollegen nicht den Hauch einer Ahnung hätten, wie ein Anwalt in einer Diktatur arbeiten müsse.

Mandantenverrat

Florian Havemann stützt seine Ellenbogen auf dem Holztisch auf. Er spricht leise. Er versucht gar nicht erst, die Geräuschkulisse in dem gut besuchten Lokal zu übertönen. „Bei Mandantenverrat müsste ein Strafverfahren eingeleitet werden“, sagt der 56-Jährige, der Laienrichter am Verfassungsgericht Brandenburg ist. „Es hat aber nie einen Prozess gegen Gysi gegeben.“ Und Fakt sei, dass es seinem Vater besser und nicht schlechter erging, nachdem Gysi das Mandat übernommen hatte. Die Repressalien gegen den Staatsfeind Nummer eins der DDR ließen nach, der Hausarrest wurde ausgesetzt, er durfte an Veranstaltungen teilnehmen und es gab keine Strafverfahren mehr. Worin also bestehe der Verrat?

Der DDR-Anwalt Wolfgang Schnur etwa war 1996 zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden, unter anderem weil er zwei seiner Mandanten bei der Stasi der Westverbindungen bezichtigt hatte.

Havemann sagt: „Für meinen Vater war Gysi der Sohn von Klaus Gysi. Mein Vater wollte einen Deal mit der Parteiführung. Er hatte in dieser Zeit des Kalten Krieges auch Angst um seine DDR, mit der er sich völlig identifizierte. Er wollte Honecker wissen lassen, dass er seine Kritik an der DDR zurückfahren werde.“ Sein Vater habe gehofft, über Gysis Vater, den Staatssekretär für Kirchenfragen in der DDR, zu den Oberen Kontakt zu bekommen. „Gregor Gysi war für ihn ein Mittler, ein Diplomat - ein sehr erfolgreicher“, sagt Florian Havemann.

Gysi bestätigt nur, dass es ein Gespräch zwischen seinem Vater und dem SED-Chef und DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker gegeben habe. „Auf Bitten Havemanns“. Worum es ging? Schweigen. Dazu sagt Gysi nichts. Er beruft sich auf seine Schweigepflicht als Anwalt, was Florian Havemann nicht versteht. Es gebe keine Wahrheiten, vor denen sein Vater heute geschützt werden müsse, sagt der Sohn. In seinem jüngst veröffentlichten, heftig umstrittenen 1000-Seiten-Buch „Havemann“ beschreibt er etliche unschöne Details über das Leben seines Vaters, von dem er sich schon als Kind abgelehnt und verlassen fühlte. Gysi sagt, auch der Bruch der Schweigepflicht sei strafbar.

Früh verdächtigt

Über Katja Havemann, die dritte Ehefrau des Dissidenten, spricht Gysi schon. Sie verdächtigte Gysi früh der Stasi-Machenschaften. Gysi erzählt, nach dem Tod von Robert Havemann habe die Witwe einen kritischen Text im Westen veröffentlicht. Eine Staatsanwältin habe ihn bestellt und gewarnt, dass Katja Havemann nie die Privilegien ihres Mannes bekommen werde: Während Robert Havemann von Inhaftierungen verschont wurde, werde das für Katja Havemann nicht gelten. Das habe er ihr mitgeteilt, sagt Gysi.

Die neuerliche Debatte hatte sich im Mai an Vermerken entzündet, die die Birthler-Behörde herausgeben hat. In einem der Schriftstücke wird ein Gespräch von Gysi mit Robert und Katja Havemann sowie dem Maler Thomas Erwin, heute Thomas Klingenstein, im Oktober 1979 wiedergegeben. Darin heißt es auch: „Der IM nahm Erwin mit in die Stadt.“ Klingenstein sagt, der Fahrer sei Gysi gewesen.

Gysis Gegner sehen damit den Frontmann der Linken überführt. Gysi wehrt ab, die Stasi habe niemals in einem Vermerk jemanden IM und mit Klarnamen zugleich genannt. Inzwischen erreichte Gysi eine einstweilige Verfügung gegen das ZDF, wonach der Sender eine Äußerung von Birthler über seine angebliche Beziehung zum Ministerium für Staatssicherheit (MfS) im Fall Havemann nicht weiterverbreiten darf. Birthler selbst bleibt dabei: Nach Aktenlage habe Gysi „willentlich und wissentlich“ der Stasi über Havemann berichtet.

Die Aktenlage. „Zu glauben, es wäre so gewesen, wie es in den Akten steht, wäre abgrundtief falsch“, sagt Florian Havemann. Er kennt die Methoden. Als 16-Jähriger saß er 1968 vier Monate in Haft, weil er gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings protestiert hatte. In den Stasi-Unterlagen seien Protokolle von Gesprächen zu finden, die so nie geführt worden seien, sagt er. „Die Stasi produzierte Akten. Alles im Stasi-Deutsch formuliert, davon nicht ein Wort, wie man es selbst gesagt hat.“

1971 floh der Sohn des Regimekritikers in den Westen, weil er das System nicht mehr ertrug. Den Segen des Vaters bekam er nicht. „Er hatte immer an den Sozialismus geglaubt. Ich nicht mehr.“ Es blieb ein unversöhnlicher Abschied. Seinen Sohn sah Havemann, der 1982 starb, nicht wieder. 20 Jahre später kandidierte der parteilose Florian Havemann auf der Liste der PDS für den Bundestag. Damals schaffte die SED-Nachfolgepartei den Wiedereinzug in das Parlament nicht.

Grenzgänger und Gratwanderer

Gysi gilt als Grenzgänger, als Gratwanderer in der DDR, aus dem nach der Wende ein Vollblutpolitiker wurde. An diesem Abend in Berlin erzählt er Andrej Bahro und Florian Havemann, wie er über die Abteilung Staat und Recht des ZK versucht habe, bei der Parteiführung und letztlich bei Honecker die Lage ihrer Väter zu verbessern. „Die Kunst bestand darin zu sagen, dass es auch der DDR schadet“, sagt Gysi. Ein Partei-Vermerk zu Bahro liest sich damit so: „Der Rechtsanwalt führte weiter aus, er halte Leute wie Bahro für unverbesserliche Feinde des Sozialismus, die man besser rechtzeitig versuchen sollte, in die BRD abzuschieben.“ Gysi bezweifelt zwar, dass das seine Worte waren, aber die Richtung stimme. Bahro wollte in den Westen. „Und ich wusste, über Bahro entscheidet Honecker selbst.“

Birthler sagte in einem Gespräch mit der „Süddeutschen Zeitung“ (26. Juni): „Gysi sagt, er habe überhaupt nicht mit dem MfS gesprochen und ihm nicht berichtet. Die Akten sagen: Er hat direkt mit dem MfS kommuniziert. Darum geht der Streit - nicht darum, zu welchem Zweck und mit welchen Folgen das geschehen ist ... Wenn ein IM über seine Nachbarin sagte, “die liebt ihre Kinder über alles“, in dem Bemühen, nichts Böses über die Nachbarin zu sagen, dann ist das keine üble Nachrede, und der IM kann subjektiv sagen, er wollte ihr nicht schaden. Was die Stasi mit dieser Information gemacht hat, steht aber auf einem ganz anderen Blatt. Für die Stasi konnte das ein wichtiges Indiz sein um zu folgern: “Da hat sie ihre sensible, schwache Stelle. An der Stelle packen wir zu.““

Für Andrej Bahro trägt seine letzte Begegnung mit der DDR den Namen Gysi. Dieser Tag im Oktober 1979 hat sich bei ihm eingebrannt. Gestiefelte Volkspolizisten bringen den damals 17-Jährigen in Berlin- Prenzlauer Berg aufs Amt. Stahltüren schlagen hinter ihm zu und er fürchtet, sie werden sich nie wieder öffnen. Stunden später nehmen ihm Stasi-Leute in schwarzen Ledermänteln alle Ausweise ab. Die Familie Bahro kann ausreisen.

In drei abgedunkelten Fahrzeugen werden der Vater, die Mutter mit den Kindern und die Freundin des Vaters zur Grenze gefahren. Anwalt Gysi begleitet seinen Mandanten im ersten Wagen. Dann steigt er aus. Die Kolonne fährt weiter zu einer Lichtung. Es ist schon Abend. Andrej Bahro glaubt, dass sie nun erschossen werden. Stattdessen bekamen sie Verpflegungspakete. Er rührt sie nicht an. Denn nun ist er sicher: Sie werden vergiftet.

Gruseliges Picknick

Das gruselige Picknick ist aber nur als Pausenfüller zeitlicher Dimension gedacht. Der Zug, der die Bahros in den Westen bringen wird, ist noch nicht eingefahren. Und die Bürger der DDR sollen den von der SED so gehassten Dissidenten nicht sehen. Wenig später wird die Familie von Journalisten im bundesrepublikanischen Helmstedt umringt. Auch Gysi kennt dieses Bild. Er hat das Westfernsehen eingeschaltet an diesem 17. Oktober 1979.

Gysi sagt, er habe damals eine speziell auf Bahro und einen weiteren gemünzte Amnestie zum 30. Jahrestag der DDR erwirkt. Obwohl der Philosoph 1978 wegen seines Buches „Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus“ - eine vernichtende Analyse über das System in der DDR - zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, war er 1979 wieder frei. Wo das Original der „Alternative“, deren Vorabdruck im Westen 1977 die Krise für Bahro ausgelöst hatte, versteckt war, hatte er nur seinem damals 15-jährigen Sohn anvertraut. Es in Bahros Büro auf dem Dachboden. Zwischen den Schindeln in der zweiten Reihe von unten. Die Stasi hat das Manuskript nie gefunden.

Gysi kennt bis heute niemanden, der so belesen ist, wie es Rudolf Bahro war. Gespräche mit ihm seien immer anstrengend gewesen, weil er so gebildet war. Einmal habe er sich über Bahro amüsiert, weil er nur einen Plattenspieler für Kinder besaß und darauf Beethoven abspielte. „Bahro sagte zu mir: “Herr Gysi, Beethoven erlebt man im Konzert. Das hier ist nur, um das Gefühl daran zu wecken.““

30. Mai 2008. Andrej Bahro sieht sich in seiner Bremer Wohnung die Live-Übertragung der Aktuellen Stunde im Bundestag zu Gysi an. Später wird er sagen, dass dies eine der schlechtesten Stunden der Demokratie gewesen sei. Der einzige Sohn Bahros hat sich in all den Jahren stets mit öffentlichen Äußerungen zurückgehalten. Jetzt spricht er von einem Tribunal. Er habe immer gehofft, dass ihn das ganze Thema nicht mehr ereilen werde - auch seine eigene Stasi-Akte habe er deshalb nie gelesen. „Mich interessiert die Stasi- Unterlagenbehörde nicht. Sind so viele falsche Angaben.“ Er nennt die Birthler-Behörde eine „Anti-Linken-Behörde“.

Doch nun sei er nach Berlin gekommen, um für Gysi einzustehen, so wie dieser es für die Familie Bahro getan habe. Im Gegensatz zu Gysi damals gehe er damit kein Risiko ein. Er könne höchstens in die Nähe der Linken gerückt werden, sagt Bahro belustigt. „Ich stehe aber gar keiner Partei nahe, nur der Vernunft. Und Parteien sind nicht vernünftig. Und ich tendiere zu Gysis Vernunft, nicht aber zu ihm als Fraktionschef.“ Rudolf Bahro sei wie Robert Havemann kein einfacher Mandant gewesen. „Und, er war kein guter Vater. Aber er war ein besserer Vater als viele Väter. Ich liebte ihn und das ist bis heute so.“

Bahro sagt das, ohne dass sich der Tonfall seiner Stimme verändern oder er den Blick abwenden würde. Es klingt wie eine bloße Feststellung. Er hält sich an diesem Abend oft zurück. Sein Witz, seine beißende Ironie und seine Kritik an der Politik lassen aber keinen Zweifel daran, dass auch er ohne weiteres 1000 Seiten zu Papier bringen könnte. Schließlich halten die Gesprächspartner nüchtern fest, dass sie alle drei „erst einmal damit klarkommen mussten, die Söhne berühmter Väter zu sein“.

Das ZDF will den Streit um die Berichterstattung über Stasi- Vorwürfe gegen Gysi notfalls vom Bundesverfassungsgericht entscheiden lassen. Dann muss Gysi eben wieder in die letzte Instanz. (dpa)