Partner im RedaktionsNetzwerk Deutschland
Merken

Der Fluch der Verordnung 1677/88 wirkt immer noch

Kein Papier der EU hat so viel Furore gemacht wie das über die Krümmung von Gurken vor 25 Jahren.

Teilen
Folgen
NEU!

Von Dieter Ebeling

Die „Verordnung (EWG) Nr. 1677/88“ kennt jeder. Das ist nämlich die „Gurkenkrümmungsverordnung“ der Europäischen Union. Sie ist das Paradebeispiel für die außer Kontrolle geratene Regulierungswut im „Raumschiff Brüssel“: Unterbeschäftigte und hoch bezahlte EU-Beamte haben nichts Besseres zu tun, als die Krümmung von Gurken zu regeln. Das stimmt zwar so nicht – aber allen Tatsachen zum Trotz lastete die Verordnung zwei Jahrzehnte lang wie ein Fluch über der EU. Vor 25 Jahren wurde sie beschlossen, vor vier Jahren abgeschafft.

Damals ahnte in der EU-Kommission niemand, wie viel öffentliche Aufmerksamkeit der siebenseitigen Verordnung im Laufe von rund 20 Jahren zuteilwerden sollte. In der Verordnung wurden Handelsklassen für Gurken definiert. Für die Klasse „Extra“ wurde bestimmt, dass diese Gurken „gut geformt und praktisch gerade sein (maximale Krümmung: zehn Millimeter auf zehn Zentimeter Länge der Gurke)“ müssen. Gurken der Klasse eins mussten nur „ziemlich gut geformt“, durften aber auch nicht krummer sein.

Formulierungen wie diese garantierten den raschen Aufstieg der „Gurkenkrümmungsverordnung“ zur medialen und rhetorischen Allzweckwaffe gegen die EU und deren unnütze, lächerliche Riesenbürokratie. Wer etwa darauf hinwies, dass jede einzelne der deutschen Millionenstädte mehr Beamte beschäftigt als die gesamte Europäische Union, wurde gerne mit dem Argument konfrontiert, keinem der 1,9 Millionen deutschen Beamten sei es je eingefallen, den Krümmungsgrad von Gurken festzulegen. Gelegentlich forderten auch Vertreter nationaler Regierungen – die zwar auch an Verordnung Nr. 1677 mitgewirkt, dies aber über die Jahre hinweg erfolgreich verdrängt hatten – mit solch bürokratischem Unsinn Schluss zu machen.

Im Herzen ist die Gurke noch gerade

Tatsächlich hatte die EU 1988 mit ihrer Verordnung lediglich Empfehlungen des UN-Wirtschaftsausschusses für Europa (ECE) übernommen. Und das geschah auf Wunsch des Handels: Der wollte verbindlich geregelt wissen, wie viele Gurken in einer standardisierten Einheitskiste sein sollten. Zudem sollte für die Verbraucher mehr Klarheit geschaffen werden. Ähnliche Definitionen von Handelsklassen gab es auch – und gibt es teilweise noch immer – für anderes Obst und Gemüse.

Nur mit Mühe gelang denn auch die Abschaffung der Verordnung 1677 zum 1. Juli 2009: 15 der 27 EU-Staaten waren bis zuletzt für das Fortbestehen der Verordnung über den Krümmungsgrad – was aber nicht ausreichte, um die Kommission an der Aufhebung zu hindern. Deutschland schwenkte erst relativ spät auf Aufhebung um. Der Deutsche Bauernverband leistete bis zuletzt Widerstand und wetterte gegen „reine Symbolpolitik“.

Aber der Tod der Verordnung über die Gurke und 25 andere Obst- und Gemüsearten war nicht zu stoppen. Stolz verkündete EU-Agrarkommissarin Mariann Fischer Boel 2008: „Dies bedeutet einen Neuanfang für die krumme Gurke und die knorrige Karotte.“

Ein Leben ohne Gurkenkrümmungsverordnung scheint zwar denkbar, ist aber wohl nicht möglich. Also lebt sie insgeheim weiter: Großhändler und Lebensmitteldiscounter tun einfach so, als gebe es die Verordnung immer noch.

Und auch die ECE hält an der UN-Gurkennorm fest. Sogar im politischen Leben ist sie – als traumatischer Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses der EU – nach wie vor da. Im Mai wollte EU-Agrarkommissar Dacian Ciolos die kleinen Kännchen mit offenem Olivenöl in Restaurants verbieten. Verlangt hatten das die großen Olivenöl-Hersteller. Der Aufschrei der Empörung im Norden der EU war laut: Das erinnere ja an die Gurkenkrümmungsverordnung. Die Erwähnung von Nr. 1677/88 reichte: Ciolos zog seinen Vorschlag zurück. (dpa)