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Der letzte Schiffsjunge

Siegfried Schlegel wurde als Fünfzehnjähriger 1943 auf einen Elbkahn verpflichtet – seine vielen Erlebnisse hat er jetzt aufgeschrieben.

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© Udo Lemke

Von Udo Lemke

Meißen. Siegfried Schlegel wohnt in Demitz-Thumitz, dem Dorf bei Bischofswerda, in dessen Steinbrüchen der Lausitzer Granit gebrochen wird. Bis zur Elbe sind es von hier aus vielleicht 30 Kilometer. Und doch gibt es nicht viele Menschen, die die Elbe besser kennen, die mehr über den Fluss wissen, als er. „Die Leute denken, die Elbe fließt so frontal vor sich her. Falsch! Sie schraubt sich vorwärts, auf der einen Seite geht das Wasser nach unten, auf der andern kommt es wieder hoch.“ Er formt mit den Händen die schraubenförmige Bewegung nach.

Siegfried Schlegel ist 90, und er dürfte der letzte lebende Schiffsjunge der Binnenschifffahrt auf der Elbe in der Region sein. 1943 wurde er dienstverpflichtet. Heute betrachtet er das als sein Glück. Hat er doch auf dem Meer bei der Handelsschifffahrt nicht nur 30 Meter hohe Wellen erlebt. Je länger der Krieg dauerte, desto geringer waren auch die Chancen, ihn auf einem deutschen Handelsschiff zu überleben. „Ich hatte das Glück, von der Seefahrt zur Binnenschifffahrt zu wechseln. Das erschien mir sicherer, die anderen kamen ja reihenweise ums Leben. Für mich war das die Lebensrettung.“

Im Herbst 1943, da war er 15 Jahre alt, heuerte er auf einem Elbkahn an. „Bei der Binnenschifffahrt gab’s ja nur Schiffsjungen und Bootsmänner. Ob jemand die Kapitänsprüfung hatte oder nicht – die Schiffsführer hießen einfach nur Schiffer. Kein Mensch hat auf der Elbe zu einem Schiffer Kapitän gesagt.“

Dafür gab es für die Schiffsjungen noch andere Bezeichnungen: Dreckspudel oder Mädchen für alles wurden sie genannt. Der Arbeitsalltag war hart. Es wurde jeden Tag 14 Stunden gearbeitet, und wenn der Schiffer eine eilige Fracht hatte, dann konnten es auch schon mal 16 Stunden werden. Der Schiffer fuhr dann los, wenn es hell wurde und so lange bis, er nicht mehr stehen konnte, oder das Licht nicht mehr ausreichte. Sein Geschäft war eine Kunst. Denn die meisten der Elbkähne, die kleinen waren 67 Meter lang, die großen 92 Meter waren Frachtkähne, die ohne Maschinenantrieb talwärts fuhren mit dem Wasser des Stromes.

„Es war eine abenteuerliche Fahrt, ohne Maschinenkraft von Böhmen nach Hamburg zu fahren und gut anzukommen“, erklärt Siegfried Schlegel. Da musste man schon Erfahrung haben. Wenn es Wind gab, der das Schiff zur Seite drückte, musste man sparsam steuern, etwas schräg gegen die Strömung. Selbst mit dem Gegenwind nahmen es die Schiffer auf, sie setzten ein großes viereckiges Segel und kreuzten in einer ganz engen Zickzacklinie auf der schmalen Elbe – großes Können!

Sein Geheimnis sieht Siegfried Schlegel in der Verbundenheit der Schiffer mit der Elbe. „Die Schiffer beobachteten die Farbe des Himmels, den Glanz des Wassers und konnten daraus schließen, was am nächsten Tag passieren wird.“ Unterhalb von Torgau, wo sich die Elbaue weitet, mussten sie ganz anders fahren als durch die enge Sächsische Schweiz oder kurz vor Lauenburg, wo die Elbe dreimal so breit ist. „Das kannten die Schiffer alle auswendig.“

Und der Schiffsjunge, was hatte der zu tun? „An Bord gibt es immer zu putzen, zu scheuern, zu schrubben, zu polieren, zu pinseln und zu lackieren. Es wurde das ganze Jahr pausenlos gemalt – niemand sagte gestrichen. Stahl rostet ja enorm.“ Der Schiffer konnte nicht vom Steuer weg und der Bootsmann nicht von der Ankermaschine. „Wenn‘s drauf an kam, musste der Kahn ja sofort zum Stehen gebracht werden. Und da er keine Bremsen hatte, ging das nur mithilfe der Anker.“

Wahrscheinlich war der Schiffsjunge auch dafür zuständig, dem Schiffer und dem Bootsmann das Essen zu machen. Weit gefehlt! Jeder hat sich selbst sein Essen gemacht! „Jeder Elbschiffer hatte eine Bratpfanne, einen großen und einen kleinen Kochtopf, Messer und Gabel und einen Rührlöffel und einen Trinkbecher.“ Gekocht wurde auf einem kleinen Kohleherd. Das Hauptproblem hatte der Schiffer, denn wen sollte er ans Ruder stellen, wenn er selbst einmal etwas essen wollte? Glück hatte er, wenn seine Frau mitfuhr, dann war das Problem gelöst.

Die Frachtkähne auf der Elbe – es gab damals Hunderte – transportieren Schüttgut wie Baukies, Koks, Steinkohle, Betonteile – das konnte in offenen Kähnen transportiert werden. „Wenn sie vornehme Fracht hatten, zum Beispiel. Lebensmittel oder für ein Kaufhaus eine ganze Sendung Textilien, dann musste das Schiff ein geschlossenes Deck haben.“ Von Hamburg wurden die Frachtkähne, neu beladen, dann von Seitenradschleppern zurück an den Oberlauf der Elbe gebracht.

Was er sich für die Elbe wünscht, lautet die Frage an Siegfried Schlegel. Dass man die Schiffe dem Fluss anpasst und nicht umgedreht. „Manche wollen 3 000-Tonnen-Schiffe und dafür die ganze Elbe umbauen. Dann wird das bloß noch ein Kanal.“ Er wünscht sich eine Tonnage- und Geschwindigkeitsbegrenzung und neue Schiffe, die „trotzdem die Leistung bringen. Das geht!“ Und dann macht er eine Pause und sagt: „Das ist ja meine Elbe.“