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Der rätselhafte Tod der Heike W.

Nach fast 30 Jahren steht die Ermordung einer jungen Frau im Vogtland vor der Klärung. Eine DNA-Spur soll den Mörder überführen. Doch der passt nicht ins Profil, und sagt, er sei es nicht gewesen.

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© Freie Presse

Thomas Schade

Im Haftkrankenhaus im Leipziger Stadtteil Meusdorf liegt seit ein paar Wochen  ein 60-jähriger Mann, der wohl nicht damit gerechnet hat, dass er noch einmal hinter Gitter kommen würde. Ein Verbrechen aus dem Jahr 1987 könnte ihm zum Verhängnis werden. Er wird verdächtigt, die 18-jährige Heike Wunderlich aus dem kleinen Dorf Altensalz an der Talsperre Pöhl im Vogtland ermordet zu haben. Er ist der erste dringende Tatverdächtige nach fast 30 Jahren.

Heike Wunderlich.
Heike Wunderlich. © haertelpress

Noch ist nicht viel über den Mann bekannt. Er heißt Helmut S., ist mittlerweile Rentner und soll als junger Mann einen Handwerksberuf erlernt haben. Seit einem Schlaganfall vor drei Jahren ist er angeblich körperlich behindert und auf einen Stock angewiesen. Auch sein Gedächtnis hätte etwas gelitten, so heißt es. Bis zum 16. April, dem Tag, an dem er festgenommen wurde lebte er unauffällig in einer kleinen Plattenbauwohnung im Geraer Stadtteil Leumnitz – wie es scheint mit einer Freundin.

Etwas unheimlich sei er, aggressiv und jähzornig kann er werden. So hat es Orsina Reinhardt der Bildzeitung erzählt. Sie wird als Freundin der Familie von Helmut S. bezeichnet. Die 55-Jährige berichtete auch, dass Helmut S. Anfang der 1980er-Jahre aus der DDR flüchten wollte und deswegen von 1982 bis 1984 im Gefängnis saß. Irgendwann vor etwa 20 Jahren sei er von Plauen nach Gera gezogen.

Zweimal haben Ermittler der Zwickauer Kripo bislang mit dem 60-Jährigen gesprochen, zuletzt am Tag vor Christi Himmelfahrt. Doch Helmut S. bestreitet hartnäckig, dass er Heike Wunderlich kennt und leugnet, mit ihrem Tod etwas zu tun zu haben. Doch das muss nichts bedeuten in diesem Mordfall, der bislang zu den rätselhaftesten der jüngeren sächsischen Kriminalgeschichte zählt.

Polizei und Staatsanwaltschaft, die in den Jahren zuvor in Fahndungssendungen von ZDF und MDR viele Ermittlungsergebnisse preisgegeben hatten, hüllen sich nun wieder in Schweigen. Weder der Zwickauer Oberstaatsanwalt Holger Illing noch der ermittelnde Kriminalhauptkommissar Enrico Petzold wollen derzeit Konkretes sagen. Beide sind seit Jahren mit dem Fall befasst. „Weil es wieder ein aktuelles Verfahren ist“, so Illing, seien ihnen die Hände gebunden. Doch beide glauben, dass Heike Wunderlichs Mörder endlich gefunden ist. Sollte das zutreffen, dann müsste die 18-Jährige mit den kurzen dunklen Haaren dem zehn Jahre älteren, hochgewachsenen, kräftigen Fleischergesellen Helmut S. in der Mordnacht 1987 begegnet sein. Kein Wunder also, dass der heutige EU-Rentner sich daran nicht erinnern möchte.

Jener Donnerstag vor 29 Jahren war ein langer Tag für die junge Strickerin im VEB Plauener Gardine. Sie war an diesem Tag krankgeschrieben, fuhr am Vormittag dennoch in den Betrieb um ihren Lohn abzuholen, etwa 700 Mark. Danach kehrte sie nach Altensalz zurück. Etwa zehn Kilometer sind es von der Kreisstadt bis zu dem kleinen Dorf neben der Talsperre. Am Nachmittag machte sie sich auf ihrem roten Simson-Moped wieder auf den Weg in die Stadt. Zunächst besuchte sie ihre Mutter im Krankenhaus, der der Blindarm entfernt worden war. Ihr brachte sie selbst gebackenen Kuchen. Danach besuchte sie ihren Abendkurs in der Volkshochschule. Heike Wunderlich wollte studieren und büffelte dreimal wöchentlich für die Hochschulreife. Nach der Schule verbrachte sie noch einige Zeit bei Conny, mit ihrer besten Freundin schaute sie Fotos an.

Erst nach halb zehn Uhr abends machte sich Heike Wunderlich auf den Heimweg. Es war längst dunkel, als sie ihr Moped startete. Seit Stunden hatte es geregnet. Die unangenehme Fahrt führte sie aus der Stadt auf die Fernverkehrsstraße 173. Nach acht Minuten, gleich hinter dem Ortsausgang Plauen, zweigt rechts der Voigtsgrüner Weg ab, eine Ortsverbindungsstraße, die sie immer nutzte, wenn sie zwischen Plauen und Altensalz unterwegs war.

Bis heute ist unklar, was während der Fahrt auf dem Voigtsgrüner Weg nach wenigen Hundert Metern passierte. Musste Heike Wunderlich anhalten und schieben, weil ihr Moped streikte? Oder zwang ihr Mörder sie dazu, anzuhalten? Heikes Vater wartete an diesem Abend vergeblich auf seine Tochter. Am nächsten Morgen rief er bei ihrer Freundin Conny an und fragte nach Heike. Sie habe sich verabschiedet, um heimzufahren, erfuhr er. Noch am Vormittag meldete er Heike Wunderlich als vermisst.

Stunden später, gegen 15  Uhr, geht bei der örtlichen Polizei die Meldung ein, dass eine tote Frau entdeckt wurde, im Wald gleich neben dem Voigtsgrüner Weg. Ein DDR-Grenzsoldat war auf der Straße unterwegs gewesen und hatte beim Pinkeln am Waldrand das Moped und die Leiche entdeckt. Es war Heike Wunderlich.

Wo heute ein Holzplatz ist und geschlagene Kiefernstämme liegen, lag vor 29 Jahren die Leiche der jungen Frau kaum versteckt im Unterholz – fast nackt. Rechtsmediziner stellten später fest: Sie wurde missbraucht und erdrosselt. Kleidungsstücke waren am Fundort verstreut. Nicht finden konnten Kriminaltechniker den Ausweis und die Geldtasche der Toten mit mehreren Hundert Mark.

Auch sonst war der Ort, an dem die Leiche lag, kriminaltechnisch eher ein Desaster. Stundenlanger Regen hatte den Boden aufgeweicht. Dennoch gebe es verwertbare Spuren, mehr will man bei der Zwickauer Kripo derzeit nicht sagen. Aber die Kriminalisten hatten damals akribisch alle persönlichen Gegenstände der Toten gesichert und aufbewahrt. Das könnte sich nun als Glücksfall erweisen. Dennoch ist bis heute unklar, was in jener regennassen Nacht zwischen 21.45 Uhr und vier Uhr morgens auf dem Voigtsgrüner Weg passierte.

Ein Zeuge, der damals täglich am frühen Morgen auf der Straße unterwegs war, sagte später, dass er an jenem Tag in einer der Einfahrten zum Wald ein helles Auto bemerkt habe. Es habe im Kennzeichen ein T für Karl-Marx-Stadt gehabt. Damit gibt es ein Zeitfenster von etwa fünf Stunden für den Mord. War der nun dringend Verdächtige Helmut S. in dieser Zeit auf dieser Ortsverbindungsstraße unterwegs? Das nachzuweisen, ist die schwerste Aufgabe, vor der die Zwickauer Mordkommission derzeit steht.

Nach Heike Wunderlichs Tod gab es merkwürdige Begebenheiten. Die Kripo observierte den Fundort der Leiche. Die Ermittler wollten wissen, wer regelmäßig auf dieser Straße unterwegs ist, und sie hofften, dass der Mörder noch einmal an den Ort seiner Tat zurückkehren würde. Tatsächlich bemerkten die Polizisten im Wald eine Woche nach der Tat, dass sie von einem Mann beobachtet wurden. Als sie ihn zur Rede stellen wollten, floh er. Von dem Unbekannten gibt es eine Beschreibung, doch bis heute ist er nicht identifiziert.

Ein Jahr später, am 13. Juni 1988, auf dem kleinen Friedhof von Altensalz. Heikes Eltern wollten das Grab ihrer Tochter besuchen. Davor stand ein Mann, den sie nicht kannten. Er konnte nicht erklären, was er an dem Grab wollte und suchte das Weite. Auch von ihm gibt es eine Beschreibung, sogar mit Phantombild. Aber auch seine Identität ist bis heute ungeklärt.

Heike Wunderlich galt als lebensfrohe junge Frau. Sie engagierte sich in der Kirchgemeinde und im Jugendklub ihres Dorfes. Sie wollte sogar die Fürbitte schreiben für den nächsten Gottesdienst. Die Ermittler fanden heraus, dass sie sich seit einem Jahr mit einem Freund traf. Wie eng die Beziehung mit dem Mann um die Dreißig war, das hatte sie nicht einmal ihrer besten Freundin verraten. Nur, dass er einen Pkw Wartburg 353 fuhr, war bekannt geworden. Seine Beschreibung passte auf den Unbekannten, den die Polizei am Fundort der Leiche nicht fassen konnte. Auch dieser Wartburg-Fahrer ist bis heute ein Rätsel.

Dem Kriminalisten Enrico Petzold ist es hauptsächlich zu verdanken, dass der Mord nie in den Archiven verschwand. Ende der 90er-Jahre schickte er die Kleidung des Opfers nochmals zum Landeskriminalamt. Dort waren forensische Biologen inzwischen in der Lage, aus DNA-Spuren genetische Fingerabdrücke herzustellen. Auch an Heike Wunderlichs Sachen fanden sie DNA-Spuren. In der Folge, so Hauptkommissar Petzold, gaben mehr als 3 000 Männer freiwillig eine Speichelprobe ab. Die Ermittler waren bei sogenannten Personenüberprüfungen auf sie gestoßen. Alle konnten als Täter ausgeschlossen werden.

Anfang der 2000er-Jahre nahmen in Sachsen die ersten Fallanalytiker, Profiler genannt, ihre Arbeit auf und beschäftigten sich alsbald auch mit dem Tod von Heike Wunderlich. Im Ergebnis schlossen die Fachleute verschiedene Versionen nicht aus. Sie bestätigten Petzolds Vermutung, dass Heike Wunderlich zu einem Mann ins Auto gestiegen sein könnte, den sie kannte. Mit einem Fremden wäre sie nicht mitgefahren, glaubt Petzold. Es kamen auch Zweifel auf, ob der Fundort der Leiche auch der Tatort ist. Die Profiler schlossen nicht aus, dass der Täter sein Opfer, die persönlichen Gegenstände und das Moped am Voigtsgrüner Weg abgelegte, um den Verdacht auf einen Mann aus Plauen zu lenken. War der Täter vielleicht mit der Arbeit der Polizei vertraut? Versionen, denen Petzold über all die Jahre nachgegangen ist.

Als im November 2006 Volker Eckert aus dem Vogtland festgenommen wurde keimte auch bei der Kripo in Zwickau Hoffnung auf. Dem Fernfahrer aus Oelsnitz wurden sieben Morde an Prostituierten in mehreren europäischen Ländern nachgewiesen. Eckert erhängte sich vor dem Prozess in seiner Zelle. Als Mörder von Heike Wunderlich musste ihn die Polizei nach einem DNA-Vergleich ausschließen.

Eben weil diese molekularbiologischen DNA-Untersuchungen im Laufe der Jahre immer mehr verfeinert wurden, schickte Hauptkommissar Petzold Heike Wunderlichs persönliche Sachen im Herbst 2015 noch einmal ins kriminaltechnische Institut nach Dresden. „Wir sind heute in der Lage, aus einer einzelnen Zelle die DNA zu bestimmen“, sagt Petra Preikschat-Sachse, die stellvertretende Leiterin des Fachbereichs DNA-Analytik. Früher sei dafür ein Vielfaches an Spurenmaterial notwendig gewesen. In einem Reinstraumlabor wurden der pinkfarbene Anorak und andere Kleidungsstücke erneut untersucht. Tatsächlich wurde dabei eine bisher nicht bekannte biologische Spur gefunden, aus der es gelang, die DNA zu bestimmen. Der Abgleich mit der bundesweiten DNA-Datenbank führte zu Helmut S., der wegen Körperverletzung und anderer Delikte in der Datenbank erfasst war.

Dieser Treffer wird nun zu einer Herausforderung für die Zwickauer Mordkommission. Gesteht der 60-Jährige die Tat nicht, müssen die Ermittler nachweisen, dass er in jener regennassen Nacht am 9. April 1987 Heike Wunderlich tatsächlich begegnet ist. Auf eine erste Schwierigkeit ist Enrico Petzold schon gestoßen. Der Verdächtige besaß zu dieser Zeit keinen Führerschein. Damit passt er nicht zu dem Täterprofil, von dem die Ermittler bisher ausgingen. „Das heißt ja aber nicht, dass er nicht Auto fahren konnte“, sagt der 47-jährige Kriminalist. Und in seiner Stimme klingt der Satz mit: „Nun erst recht“.