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Der Sachse packt die Koffer bei der Mannschaft

Das war 2018: Thomas Mai arbeitet seit 1991 als Zeugwart der Fußball-Nationalelf. Jetzt erzählt er, wie er das WM-Desaster in Russland erlebt hat.

Von Sven Geisler
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Wieder eine Chance vergeben, die Nationalspieler Mats Hummels, Joshua Kimmich und Mario Gomez  greifen sich an den Kopf. Der Titelverteidiger verliert mit 0:2 gegen Südkorea und scheitert bei der WM in Russland bereits in der Vorrunde.
Wieder eine Chance vergeben, die Nationalspieler Mats Hummels, Joshua Kimmich und Mario Gomez greifen sich an den Kopf. Der Titelverteidiger verliert mit 0:2 gegen Südkorea und scheitert bei der WM in Russland bereits in der Vorrunde. © dpa/Ina Fassbender

Es ist ihm ein bisschen peinlich. „Wenn es danach ginge“, meint Thomas Mai, müsste ich es fließend sprechen.“ Dass in seinem Zeugnis eine Eins in Russisch stand, ist lange her. Trotzdem konnte er seine „minimalistischen Kenntnisse“ im Sommer gut gebrauchen. Seit 1991 arbeitet der Sachse in der Kleiderkammer des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), betreut die Nationalmannschaft als Zeugwart auch bei Turnieren, sein Traumjob.

Das frühe Scheitern bei der Weltmeisterschaft sei auch für ihn „brutal enttäuschend“ gewesen, sagt Mai. Keiner hatte damit gerechnet, plötzlich musste er die Sachen packen. Von den Trainingsklamotten und der Spielkleidung über die 60 Bälle bis zur Ausrüstung für die Ärzte, Physiotherapeuten, Fitnesstrainer und Scouts – insgesamt zwölf Tonnen. Es ist im Laufe der Jahre immer mehr Gepäck geworden, und alles muss, das ist sein Anspruch, zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. „Du kannst ja nicht irgendwo anrufen und schnell noch etwas bringen lassen.“

In Russland hatten er und seine Kollegen alles dabei, daran hat es schon mal nicht gelegen. Aber warum ist der Titelverteidiger dann schon in der Vorrunde hängen geblieben? Am Quartier in Watutinki nahe Moskau habe es sicher nicht gelegen, meint Mai. „Der Trakt, in dem wir gewohnt haben, war komplett neu gebaut und gemütlich nach unseren Bedürfnissen eingerichtet. Ich habe mich dort wohlgefühlt.“ Joachim Löw hatte vom Charme einer Sportschule gesprochen. Der Bundestrainer hätte wohl lieber an der Schwarzmeerküste in Sotschi gewohnt, jedenfalls ließ er sich dort demonstrativ in der Morgensonne an der Strandpromenade fotografieren.

Mai hat das so nicht empfunden und war deshalb überrascht, als in den Medien von der angeblich schlechten Stimmung im Team berichtet wurde. Das Magazin Der Spiegel hatte geschrieben, dass sich die Spieler gegenseitig als „Kanaken“ oder „Kartoffeln“ bezeichnen würden. Mai kommentiert das mit einem Kopfschütteln, und – ohne dass er sich dazu äußern möchte – sieht man ihm an, was er darüber denkt. Eine solche Grüppchenbildung hat er jedenfalls nicht wahrgenommen.

Für Thomas Mai bedeutet das: Alles wieder einpacken! Und zwar viel früher als gedacht, schließlich hatte der Zeugwart genug Sachen bis zum Finale mitgenommen. Seit 1991 arbeitet der Chemnitzer in der Kleiderkammer des DFB und legt den Profis nicht nur die
Für Thomas Mai bedeutet das: Alles wieder einpacken! Und zwar viel früher als gedacht, schließlich hatte der Zeugwart genug Sachen bis zum Finale mitgenommen. Seit 1991 arbeitet der Chemnitzer in der Kleiderkammer des DFB und legt den Profis nicht nur die © Markus Gilliar

Als Zeugwart hat er das Ohr an der Masse, auch wenn die Spieler inzwischen seine Söhne sein könnten und deshalb nicht mehr unbedingt bei ihm ihr Herz ausschütten. Früher war seine Kammer so etwas wie der Anlaufpunkt, „Bistro“ hat er sie genannt, da gab’s auch nach 22 Uhr mal ein Bierchen. So etwas ist heutzutage undenkbar. „Die Jungs sind so fokussiert auf ihren Job, wenn Regeneration auf dem Plan steht, machen sie Regeneration und das total professionell“, erzählt Mai: „Manche hätten früher vielleicht gefragt: Wie, Regeneration?“

Kaum einer kann das so gut vergleichen wie der 53 Jahre alte Mai. Er wurde in Chemnitz geboren, als es noch Karl-Marx-Stadt hieß, und nutzte schon zu DDR-Zeiten beinahe jede Möglichkeit, um die westdeutsche Auswahl live zu sehen: bei Spielen in den „sozialistischen Bruderländern“, also in Polen, der Tschechoslowakei oder Bulgarien. Natürlich im Trabi. Die Fans aus dem Osten wurden erwartet. „Wir mussten nur ins Mannschaftshotel fahren. Dort lagen die Eintrittskarte und meist noch ein Wimpel, ein Anstecker und das neueste Mannschaftsfoto in einem Umschlag bereit“, erinnert sich Mai. „Früher frotzelten die Kollegen: Der spinnt doch, sich solche Spiele anzugucken. Es konnte ja keiner ahnen, dass sich das mal so entwickelt.“

Als sich die beiden Fußball-Verbände im November 1990 zum Vereinigungskongress in Leipzig trafen, meldete sich Autoschlosser Mai als Fahrer. So chauffierte er den damaligen DFB-Präsidenten Egidius Braun durch die Messestadt, sie kamen ins Gespräch, wenig später hatte er ein Vorstellungsgespräch und am 1. März 1991 nahm er die Arbeit in Frankfurt am Main auf.

Begeisterter Russland-Fahrer

Inzwischen sind sie sieben Zeugwarte für 18 Mannschaften, der Verwaltungsaufwand sei größer geworden, meint Mai über die auffälligste Veränderung. „Ansonsten ist der Ball noch rund und rollt.“ Nur eben nicht immer, wie er soll. Russland gehört zu den negativen Erlebnissen, wobei er das ausschließlich auf das sportliche Abschneiden bezogen wissen will. Von Russland ist er begeistert wie einst, als es noch die Sowjetunion gab und er mit Jugendtourist zum „großen Bruder“ reisen durfte.

Er war mit Kumpels auf der Krim, in Riga, Leningrad und Moskau. „Es war doch das einzige Land, in dem man als DDR-Bürger vernünftig Urlaub machen konnte, weil du so viel Geld umtauschen durftest, wie du wolltest“, sagt Mai. Das ist heute sowieso alles anders, seinen Eindruck von damals findet Mai aber auch während der WM bestätigt: die Gastfreundschaft. „Bei den Russen bist du immer herzlich willkommen, für ihren Gast geben sie alles, obwohl sie manchmal selbst wenig haben.“

Tee und Plätzchen in Leningrad

So war das schon, als sie auf ihrer Städtereise in Leningrad ein paar Mädels kennengelernt hatten, die sie zum Tee und selbst gebackenen Plätzchen nach Hause einluden. Für private Kontakte blieb diesmal zwar keine Gelegenheit, einige verschollen geglaubte Vokabeln hat Mai trotzdem wieder hervorgekramt. „Ich konnte nicht wirklich mit ihnen reden, habe aber viel verstanden. Sie haben sich zum Beispiel in der Wäscherei gewundert, wenn ich dann zwei, drei russische Wörter eingeworfen habe, um zu sagen: Nein, die Sachen brauche ich früher zurück.“

Als das passiert ist, was keiner glauben wollte, gibt es kein Frustsaufen wie einst zur EM 2000 in der Niederlande. „Wir waren früh halb drei zurück, da ging es flott ins Bett und für die Mannschaft am Vormittag zum Flughafen.“ Er ist mit einem kleinen Stab geblieben, sie haben wieder alles in Kisten verpackt und die Transporter beladen. Bevor auch der Zeugwart in den Urlaub … „Nix Urlaub“, hakt Mai ein. Den konnte er erst im September nehmen, ist mit seiner Frau Marita in Bulgarien gewesen. In Chemnitz ist er nur noch selten, obwohl er seit ein paar Jahren für „Bernds Glücksvögel“ in der C-Liga Darts spielt und Max Hopp, den deutschen Star der Szene, persönlich kennt.

Thomas Mai ist einfach dienstlich zu oft unterwegs, aber: „Der Job ist meine Welt.“