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Deutschland braucht mehr Mut und weniger Angst

Die vielen und extremen Krisen jagen den Menschen Angst ein. Doch Angst lähmt, meint Gastautor Michel Friedman. Ein Plädoyer für skeptischen Optimismus.

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Etwas mehr Optimismus täte uns gut. Denn die "Möglichkeit, auch in der widrigsten Wirklichkeit neu anzufangen, macht eigentlich den Menschen und seine Überlebensfähigkeit aus", sagt Michel Friedman.
Etwas mehr Optimismus täte uns gut. Denn die "Möglichkeit, auch in der widrigsten Wirklichkeit neu anzufangen, macht eigentlich den Menschen und seine Überlebensfähigkeit aus", sagt Michel Friedman. © imago stock&people

Von Michel Friedman

Watteland, Anti-Angst-Land, Sicherheitsland – das Schlaraffenland Deutschland gibt es so nicht mehr. Mehr als dreißig Jahre lang haben wir uns in einem Schlaraffenland geglaubt und die Augen fest verschlossen davor, dass es längst brennt. Erst jetzt, nach den Erfahrungen einer globalen Pandemie, mit einem Krieg in Europa und der Aussicht auf furchtbare Dürreperioden, auf Überschwemmungen direkt vor unserer Haustür, wird uns klar: Wenn wir überhaupt noch Zeit haben, irgendetwas zu retten, dann ist es nicht mehr viel.

Wir erkennen, dass unsere strukturellen Defizite in den wichtigsten Politikfeldern fast nicht mehr aufholbar sind. Ein dringend benötigtes neues Bildungskonzept braucht mindestens 18 Jahre, bis es die erste Generation hinter sich gebracht hat. Dabei ist das Konzept noch nicht mal da. Klimapolitik hetzt sich in Monatsabständen, um die verlorene Zeit aufzuholen. Hilflos. Infrastrukturmaßnahmen, vor allen Dingen im Nahverkehr, zum Beispiel bei der Bahn, werden von ihren Vorständen selbst erst in Jahrzehnten terminiert. Immer noch wird von einer „Einwanderungsgesellschaft“ fabuliert, die ihre Grenzöffnungen allerdings so eng taktet, dass die Zahl von 400.000 Menschen, die jährlich nötig sind, um die Gesellschaft wieder so jung zu machen wie erforderlich, nicht erreicht wird.

Das Illiberale ist das Gift, das die Grundrechte auffrisst

Die sozialen und medizinischen Systeme werden dadurch wahrscheinlich unbezahlbar oder zusammenbrechen. Und dann noch die Demokratie, gemeint ist die liberale Demokratie. Die illiberale Demokratie, wie sie Ungarns Regierungschef Orbán und viele andere Populisten vorleben, ist keine Demokratie. Das Illiberale ist das Gift, das die Grundrechte der Demokratie mal auffälliger, mal unauffälliger auffrisst. Wir haben eigentlich keine Zeit mehr, um die verpasste Zeit aufzuholen. Schaffen wir es in diesem Jahrzehnt nicht, werden Deutschland und viele Länder der EU keine wichtige Rolle in diesem Jahrhundert mehr spielen.

Zu Recht haben wir Angst davor, dass unser eigenes Leben in diesen Unsicherheitssog gezogen werden könnte. Doch entweder wir zaudern angstvoll weiter, tun nichts, schließen die Augen und hoffen, uns auf diese Weise nicht selbst dabei zusehen zu müssen, wenn wir in den Abgrund stolpern. Oder: Wir reißen die Augen auf, schauen hin, hören zu. Handeln.

Unser Autor: Michel Friedman, 1956 in Paris geboren, ist promovierter Jurist, arbeitet als Publizist und Talkmaster sowie als Dozent. Sein Gastbeitrag ist ein Auszug aus seinem neuen Buch „Schlaraffenland abgebrannt. Von der Angst vor einer neuen Zeit“, d
Unser Autor: Michel Friedman, 1956 in Paris geboren, ist promovierter Jurist, arbeitet als Publizist und Talkmaster sowie als Dozent. Sein Gastbeitrag ist ein Auszug aus seinem neuen Buch „Schlaraffenland abgebrannt. Von der Angst vor einer neuen Zeit“, d © dpa

Angst behindert Reflexion. Angst stört Rationalität. Angst lähmt. Aber Angst hält uns nicht nur vom Handeln ab, sie kann auch dazu ermutigen. Wie Schmerz, Wut, Neid kann auch Angst die Menschen dazu bringen, weit über sich hinauszuwachsen und Grenzen zu überwinden, die als unüberwindbar gelten. Wenn wir die lähmende Seite der Angst überwinden, dann öffnen sich Perspektiven, das bisher scheinbar Unmögliche zu erreichen.

Dass dies gelingen kann, haben wir allein in der jüngsten Geschichte zigfach erfahren: 1955 steht die Afroamerikanerin Rosa Louise Parks im Bus nicht für einen Weißen auf und befeuert damit die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung. Während der Demokratie-Proteste auf dem Tiananmen-Platz 1989 stellt sich ein einfacher Mann in einem weißen Hemd einer Kolonne von Panzern entgegen – sein Bild geht um die Welt. 2006 gibt die Aktivistin Tarana Burke dem Thema sexueller Missbrauch mit dem Hashtag #meToo eine breite Öffentlichkeit. 2018 setzt sich Greta Thunberg mit dem Pappschild „Schulstreik für das Klima“ vor den schwedischen Reichstag. 2019 berichtet der chinesische Arzt Li Wenliang trotz staatlicher Repression über ein neuartiges Coronavirus. 2023 fährt US-Präsident Joe Biden, den russischen Bomben zum Trotz, mit dem Nachtzug durch die Ukraine und zeigt sich unter freiem Himmel in Kiew. Jeden Tag überwinden Menschen irgendwo auf der Welt ihre Angst, gehen über Grenzen und zeigen, dass das, wovon alle behaupten, es ginge nicht, eben doch geht.

Wir brauchen eine neue Kultur der Ermutigung

Betrachten wir die Menschheitsgeschichte vor hundert Jahren im Vergleich zu heute, gibt es tatsächlich Ermutigendes: der Zivilisationsgrad, der Bildungsgrad der Menschen, die kulturelle Teilhabe, die vielfältigen Denkweisen der Philosophie, alle Menschenbilder und Menschbeziehungen in dieser Welt, die große Gerechtigkeitsfrage des Seins bis hin zu konkreten Fragen der sozialen und politischen Gerechtigkeit, die Fähigkeit des Menschen, Lebensbedingungen zu verbessern, der unglaubliche Fortschritt der Medizin, der nicht nur Krankheiten besiegt, sondern den Tod verschiebt, das Wunder, dass der Mensch zu einer Kunst fähig ist, die Menschen weltweit berührt, bewegt und verändert.

Natürlich ist es richtig und wichtig, Risiken einzuschätzen, zu evaluieren, in ihrer Komplexität der Konsequenzen zu bedenken. Nur lähmen darf uns das nicht. Wir müssen uns auch für Risiken entscheiden wollen – als Individuen, damit wir nicht einschlafen in uns selbst, damit unser Leben nicht deshalb begrenzt bleibt. Als Gesellschaft, um zu überleben. Wir brauchen eine neue Kultur der Ermutigung für die, die uns rational, argumentativ, verantwortungsbewusst überzeugen, uns mehr zu engagieren. Zu debattieren. Zu streiten, um die richtigen Worte zu ringen, gerade dann, wenn es schwierig wird. Und zu handeln.

Wir stehen vor einer kollektiven Aufgabe

Wir brauchen mehr und andere Formen der Partizipation von Menschen, die aus den demokratischen Verfahren bisher ausgeschlossen waren: Menschen unter
18 Jahren, Menschen aus Drittstaaten, darunter Tausende erfahrene Lehrkräfte, deren Abschlüsse hier nicht anerkannt werden, Geflüchtete, Menschen mit weniger Bildung, weniger Status als die gewählten Repräsentanten in Berlin.

Das ist nicht nur eine individuelle Aufgabe, es ist eine kollektive, eine politische Aufgabe. Ein Staat, der an der Illusion vom Schlaraffenland festhält, kann die soziale Frage kaum lösen, kann die Dringlichkeit von Verzicht kaum aussprechen, die Notwendigkeit von Solidarität kaum klarmachen, kann für die Anstrengungen der Demokratie kaum begeistern.

Uns bleiben zehn, vielleicht zwanzig Jahre, um eine existenziell bedrohliche, eine angstbedingte Regression in autoritäre, korrupte, antidemokratische Strukturen abzuwenden, die noch befeuert wird durch die Erfahrung von Krieg, Dürre, Flut, Seuchen, Hunger und durch Millionen Frauen, Männer, Kinder auf der Suche nach einem neuen Ort zum Überleben – direkt vor unserer Haustür.

Unser vermeintliches Schlaraffenland ist abgebrannt

Es ist eine doppelte Herausforderung: Wir müssen nicht nur aufholen, um unsere rückständigen Systeme der Bildung, Gesundheit, Verteidigung, Mobilität, Verwaltung auf den neuesten Stand zu bringen. Wir müssen diese Systeme auch flexibler und stärker machen, damit sie den Krisen dieses Jahrhunderts standhalten.
Und doch möchten viele, nicht nur die Älteren, auch jetzt noch lieber warten. Auf Rettung warten durch die junge Generation, die von Anfang an erlebt hat, dass das Schlaraffenland nichts als Lug und Trug ist, die schon als Kinder die Bilder von Flüchtlingsboot-Wracks und toten Babys am Strand sahen, die im Seuchen-Lockdown in ihren Zimmern ausharrten, die die Unabwendbarkeit der Klimakatastrophe früh verstanden haben und die wissen, dass der Krieg in der Ukraine genauso auch ihr Krieg sein könnte.

Erst wenn wir akzeptieren, dass unser vermeintliches Schlaraffenland längst abgebrannt ist, können wir handeln und neu denken. Vielleicht hören wir auf zu zögern, wenn wir uns den Schritt in die neue Zeit anders vorstellen: nicht so, dass jeder und jede Einzelne, allein, einen Schritt nach vorn ins Ungewisse setzt. Aggressiv. Unter Druck. Mit Angst.
Vielleicht hören wir auf zu zögern, wenn wir aufeinander zugehen, um in einer gemeinsamen Improvisation Angst zu verwandeln in Freiheit. Wenn wir vor allem den jungen Unerschrockenen, den jungen Realisten, den vielen bisher Abgehängten den politischen Raum weit öffnen; sie nicht nur ernst nehmen als Menschen, sondern als Mitgestaltende. Könnte nicht das die Verantwortungslosigkeit der Abgehobenen beenden? Die Möglichkeit, immer wieder neu anzufangen, auch in der widrigsten Wirklichkeit neu anzufangen, macht sie nicht eigentlich den Menschen und seine Überlebensfähigkeit aus?

Wenn wir trotz dieser Möglichkeit in unserer Schlaraffenmentalität steckenbleiben, werden wir die „Zeitenwende“ eines Tages vielleicht als den Wendepunkt bezeichnen müssen, an dem unsere Demokratie gescheitert ist. Ob wir noch anders können? Ich plädiere für skeptischen Optimismus.