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Die DDR roch immer so komisch

Peter Siedersleben wollte Erika aus dem Westen kennenlernen. Der Mauerbau verhinderte das. Doch die Familien wurden beste Freunde.

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Von Peter Ufer

Hätte man ihn in den 1970er-Jahren mit verbundenen Augen durch ganz Europa gefahren, die DDR hätte er immer erkannt. Sie roch so komisch.

Michael Wacker und seine Frau Erika wohnen in Tübingen. Ein elegantes Paar, graue Haare. Sie wirken, als hätten sie es geschafft. Doch da ist noch diese Mauergeschichte. 1968 fuhren sie das erste Mal über die deutsche Grenze. Nach Karl-Marx-Stadt. Die Familie, die sie besuchen wollten, kannten sie aus Briefen. Wer sie wirklich erwartete, wussten sie nicht. „Als wir mit dem Zug ankamen, stand da ein langer Kerl auf dem Bahnsteig, er überragte alle und lachte so einladend, dass ich dachte, das muss er sein“, sagt Michael Wacker.

Peter Siedersleben ist groß gewachsen, graues Haar, offenes Lächeln, ein Mann, dem man schnell vertraut. Der 67-Jährige zeigt ein Foto, dann sagt er: „Das ist sie, Erika.“ 1960 begann ihre Freundschaft. Peter Siedersleben studierte damals am Institut für Lehrerbildung in Quedlinburg. „Ein Freund hatte Besuch aus dem Westen, zeigte mir von den Töchtern der Eltern ein Foto, auf dem zwei wirklich schöne Frauen zu sehen waren. Die eine war Erika. Mein Freund gab mir ihre Adresse, ich schrieb ihr, und sie antwortete tatsächlich“, sagt Peter Siedersleben. Sie wollten sich treffen. „Vielleicht hätte ich sie geheiratet, doch dann stand plötzlich die Mauer zwischen uns.“

Peter Siedersleben lernte seine heutige Frau kennen. Erika heiratete in Tübigen Michael. Doch Peter und Erika schrieben sich weiter. Michael Wacker wusste anfangs nicht so recht, was er davon halten sollte. Da war einer im Osten Deutschlands, den er nicht kannte, aber seine Frau mochte den Unbekannten offensichtlich. Dann wollte sie ihn auch noch besuchen. Als sie sich das erste Mal auf dem Bahnhof in Chemnitz sahen, verschwand jedoch alle Skepsis. Michael und Peter verstanden sich sofort. „Wir sind wie Brüder“, sagt Peter Siedersleben, der Erika zur Cousine seiner Frau befördert hatte. Denn für die Grenzbehörden brauchten sie ein Verwandtschaftsverhältnis.

Die Freundschaft hat die Mauer überdauert. Die Wackers aus dem Westen kamen immer wieder zu dem Ehepaar Siedersleben in den Osten. Erika ist Patentante von Peters Tochter. „Ja, so etwas gibt es“, sagt Michael Wacker, „Freundschaft auf den ersten Blick“. Allerdings blieben heftige Diskussionen nicht aus. Michael Wacker arbeitete als Zahnarzt, besaß in Tübingen eine eigene Praxis, Peter Siedersleben leitete als Direktor die erweiterte Oberschule in Geyer bei Chemnitz. „Er war ein positiv Überzeugter, der nie auf die Idee gekommen wäre, in den Westen abzuhauen“, sagt Michael Wacker.

Der ehemalige Schuldirektor ging 1992 zur Victoria-Versicherung, eine harte Zäsur in seinem Leben, denn er dachte immer, er sei ein guter Lehrer, einer, der seinen Schülern nah ist und nicht dem Staat. Trotzdem wurde ihm die Staatsnähe vorgeworfen. Einem Generalverdacht ausgesetzt zu sein kränkte ihn, denn all die Jahre ging ihm zum Beispiel die Freundschaft zu Wackers aus dem Westen über die Parteiräson. Er sagt: „Ich wurde oft von den Genossen gebeten, meinen Westkontakt abzubrechen, aber das kam für mich nie infrage.“

In den 1970er-Jahren sollte er die Schule in Annaberg übernehmen, feierte schon Abschied mit seinen Kollegen, aber dann durfte er doch nicht. „Meine Freunde aus dem Westen bewahrten mich davor“, sagt Peter Siedersleben, dessen Vater er nie sah, weil der nach dem Krieg nach Frankreich ging. „Deshalb bin ich in Berlin einfach in die französische Botschaft gegangen, um nachzufragen, ob sie meinen Vater ausfindig machen könnten. Aber ich wurde abgewiegelt. Ich dachte immer, Entscheidungen wären von einzelnen Personen abhängig, aber das war naiv, ein Irrtum. Die Entscheidungen in der DDR waren systembedingt.“

Damals bekam er Herzbeschwerden, von denen er heute nichts mehr spürt. Um sich abzulenken, begann er zu drechseln und zu schnitzen. Eine Armada von Nussknackern und Räuchermännern entstand, und ein Großteil davon schickte er den Wackers. „So revanchierten wir uns für die vielen Pakete, die wir aus dem Westen bekamen“, sagt Peter Siedersleben. Seine größte Pyramide steht im Tübinger Stadtmuseum. Das erzählt der ehemalige Lehrer und freut sich, als wäre damit die Vergangenheit wieder in Ordnung.

Wenn Michael Wacker heute gen Chemnitz fährt, riecht es wie bei ihm zu Hause. „Die Straßen hier sind fantastisch, in Tübingen holpert es heute wie früher in der DDR. So haben sich die Zeiten geändert“, sagt er. Die Freundschaft blieb. Inzwischen waren die Siederslebens in Tübingen, die Familien fahren gemeinsam in den Urlaub. Briefe schreiben sie sich nicht mehr. Wenn sie sich nicht sehen, wird gemailt.

„Schicksal Mauer“ ist eine gemeinsame Serie der Sächsischen Zeitung und von MDR 1 Radio Sachsen. Am 13. August liegt der SZ das Hörbuch „Das Paselwitzer Tagebuch“ bei. In einer fiktiv-dokumentarischen Erinnerung erzählen Christine Hoppe, Rolf Hoppe, Dieter Mann und Zeitzeugen Mauer-Schicksale nach.