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Die ergriffene Chance

Erst arbeitslos, dann ausgewandert: Ein gebürtiger Dresdner hat auf Teneriffa eine Wanderagentur gegründet. Doch die Konkurrenz macht Ärger.

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Von Ronny Zimmermann

Es ist frisch an diesem Morgen in Masca. 600 Meter über den Weiten des Ozeans liegt dieses Bergdorf auf Teneriffa. Palmenblätter schwingen sanft im Wind. Rechts und links der mit roten Ziegeln gedeckten Häuser ragen Felsen in den Himmel. Noch liegt das Dorf in ihrem Schatten, halten die Bergwände die Sonne in Schach. Nichts deutet auf das hin, was da kommt: In einer Stunde wird es von Touristen wimmeln. Dann wird das Bergdorf aus dem Schlaf gerissen werden, sich in eine Urlauberhochburg verwandeln, in lärmend-bunte Betriebsamkeit.

Noch aber ist es ruhig. Solche Momente liebt Jörg Göhler. „Ist das nicht herrlich hier oben?“, fragt er. Der 51-Jährige sitzt auf der Terrasse des Cafés „La Piedra“ – „der Fels“. Im Tal blühen gelb die Wolfsmilchstauden. Es duftet nach Atlantik, nach Frische. Die Bedienung kommt an den Tisch: schwarzes, lockiges Haar und ein Lächeln wie ein achtes Weltwunder. Jörg Göhler bestellt einen „Cortado“ – das ist ein spanischer Kaffee, kräftig und cremig, stark und süß. So wie die Landschaft, auf die Göhler blickt.

Die Abfindung als Startkapital

Er hat sich in Teneriffa, die größte der Kanarischen Inseln, verliebt. Seit vier Jahren lebt er nun dort. Ausgewandert ist er im Januar 2007. Er stand auf dem Flughafen und hatte nur zwei Koffer bei sich. Den Rest seiner Habe ließ er in Deutschland.

Göhler wollte etwas Neues anfangen, einen Schlussstrich ziehen unter die Vergangenheit. „Ich hatte nur eine begrenzte Ahnung von dem, was mich erwartet. Was sollte ich also alles mitnehmen?“ Der gebürtige Dresdner packte einen Drucker und einen Computer dazu. Dann war das Paket zum Auswandern geschnürt.

Warum er Drucker und Computer mitnahm? Auf Teneriffa baute er sich seine neue Existenz auf. Schnell brauchte er ein arbeitsfähiges Büro. Viel Zeit hatte er nicht. „Es gibt drei Arten von Menschen, die auswandern: Die einen hauen nach kurzer Zeit wieder ab, weil sie sich alles einfacher vorgestellt hatten. Andere bleiben ein paar Jahre, können aber nichts Langfristiges aufbauen. Und eine dritte Gruppe wird in dem fremden Land glücklich“, sagt Göhler. Er will zu der letzten Gruppe gehören.

Also schmiedete er schon zu Hause seinen Plan: Auf Teneriffa wird er eine Wanderagentur gründen. Sie soll die Touristen an die schönsten Flecken der Insel führen. Auf den Teide zum Beispiel, den mit 3718 Metern höchsten Berg Spaniens. Beim Wandern die Landschaft genießen – das war sein Konzept. Nicht mehr, nicht weniger. In Deutschland war er arbeitslos geworden. Für den ehemaligen Niederlassungsleiter eines Betriebs in Sachsen-Anhalt ein Schock. Wo viele resigniert hätten, fasste Göhler den Entschluss: „Jetzt oder nie. Da ich die Arbeit verlor, bot sich die einmalige Möglichkeit auszuwandern“, sagt er. Obendrein bekam er eine gute Abfindung. Sie wurde zum Startkapital für das Wanderprojekt auf Teneriffa.

Datteln und Delfine

Er finanzierte einen Sprachkurs, mietete eine Wohnung bei Puerto de Santa Cruz im Nordwesten der Insel und meldete auf Teneriffa ein Gewerbe an: „Aventura-Wandern“ nannte er sein Angebot. „Aventura“ heißt „Abenteuer“. Davon hatte Göhler immer geträumt. Nun war er bereit fürs Auswandern.

Der „Cortado“ ist leer getrunken. Jörg Göhler steht auf. Der erste Bus kommt in Masca an. Fünfzehn Touristen steigen aus – fünfzehn von einer Million Urlauber, die das Bergdorf jährlich besuchen. Göhler sagt fast schon entschuldigend: „Bei mehr als vier Millionen Urlaubern auf Teneriffa im Jahr ist die Zahl realistisch. Das ist das schönste Dorf der Insel.“ Die Touristen tragen Wander- oder Turnschuhe, einen Rucksack und knipsen. Es sind die Kunden von Wanderführer Jörg Göhler. Die nächsten sechs Stunden wird er mit ihnen verbringen.

Ihre Wanderung führt durch die Felsschlucht von Masca. 600 Höhenmeter bergab sind vom Dorfzentrum aus zu bewältigen: Es geht zu Beginn über eine kleine Holzbrücke, zwischen steilen Bergflanken hindurch, vorbei an terrassierten Feldern, an Maulbeerbäumen, Feigen, Mandelbäumen, Agaven, Dattelpalmen und Kakteen. Unten, am Atlantik, werden tosende Wellen gegen die Klippen schlagen. Baden ist verboten. Lebensgefahr. Ein Katamaran wird die Gruppe abholen, sie zum sicheren Hafen der Stadt Los Gigantes bringen. Mit ein wenig Glück begleiten Delfine den Weg. Jörg Göhler hat alles organisiert. In Los Gigantes endet auch sein Arbeitstag.

Er plaudert gern mit den wandernden Touristen. Ob es nicht ein bisschen stressig sei, jeden Tag zu wandern, will eine Frau aus dem Schwarzwald wissen. Göhler schüttelt den Kopf. Er habe den gesündesten Job der Welt, er verbinde Aktivität mit Beruf. Und er beruft sich auf ein spanisches Sprichwort: „Hier arbeitet man, um zu leben.“ Nicht andersherum. Göhler schätzt diese Lebensqualität.

Stress hat er nur mit der Konkurrenz. Die Wandertouren-Anbieter kämpfen um jeden Touristen, manchmal schon, bevor dieser die Insel überhaupt betritt. Darüber redet Jörg Göhler nicht gern. Dieser Kampf, er passe nicht zu der Schönheit dieser Insel. Doch Göhler hat sich bereits im Thema verfangen.

„Wenn das Geschäft schlecht läuft, überlegen einige einheimische Anbieter zuerst, wie sie ihren Konkurrenten schaden könnten, anstatt ihr eigenes Konzept zu überprüfen.“ Das ärgert ihn. In diesem Moment wird der herzliche, sonst so besonnene Wanderführer Jörg Göhler zum Unternehmer. Es geht um Existenzen. Auch um seine eigene. Göhler findet schon mal zerrissene Prospekte seiner Agentur „Aventura-Wandern“ in Hotels. Anbieter aus dem Süden der Insel reagieren gereizt, wenn sie mitbekommen, dass Nord-Wandergruppen ihnen Kundschaft abnehmen.

Dann fängt sich Jörg Göhler wieder. „Im Grunde findet jeder seine Nische.“ Auch er hat sie gefunden. Viele Touristen aus Deutschland buchen bereits vorab im Internet ihre Wander-Touren bei ihm.

Er bietet den Gästen ja auch so einiges. Die Masca-Schlucht für die Genießer, eine Wanderung mit leckeren Tapas für Gourmets und dann noch das Nonplusultra für alle Abenteurer: die Gipfelbesteigung des El Pico del Teide. Vulkankrater. Eisfelder. Nervenkitzel pur.

Nur einen Tag nachdem die Wandertruppe die Bergschlucht bei Masca herabgeklettert war, trifft sie sich nun an der unteren Station der Teide-Seilbahn. Doch sie werden nicht fahren, sondern laufen. Die nächsten zwei Tage werden sie auf Lava-Gestein verbringen, in einer Hütte übernachten und am Morgen die letzten 500 Höhenmeter zum Gipfel durchziehen. „Wer den Berg wahrnehmen will, der muss ihn per Fuß bezwingen. Sonst kommt man im Geist doch gar nicht an“, sagt Göhler.

Auch Naturforscher Alexander von Humboldt tat das 1799 so. Ob ihm auch der Kopf drückte? Ihm das Atmen schwerfiel? Auf 3000 Metern ist die Luft sehr dünn. Die Gruppe nimmt einen Schluck Wasser, macht oft Pause. Doch die Qualen lohnen sich: Die Sonne versinkt hinter den Bergen. Der Himmel färbt sich rot. Göhler erzählt, dass neulich eine Ärztin mitgewandert sei. Da habe er sich sicher gefühlt. Doch die Frau schaute verwundert und meinte nur: „Wenn Sie mich brauchen, ist alles zu spät. Ich bin Pathologin.“

Schwefel an der Spitze

Der zweite Tag der Teide-Besteigung. Stirnlampe, Mütze, Handschuhe. Es sind minus fünf Grad. Plötzlich rutscht Ernst ab, ein erfahrener Wanderer aus der Schwäbischen Alb. Glatteis. Ernst liegt am Boden, rührt sich nicht. Wanderführer Göhler eilt zu ihm. Dann Entwarnung. Ernst steht auf. Es ist nichts passiert.

Die Gruppe erreicht den Krater des Teide-Vulkans. Es riecht nach rohen Eiern. Es ist der austretende Schwefel, der diesen eigenartigen Duft verbreitet. Der Berg ist als einziger von 135 Vulkanen auf der Kanaren-Insel noch aktiv. Der letzte Ausbruch auf Teneriffa war 1909. Seitdem ist es ruhig. Aber diese Schwefeldüfte, dieses massive, dunkle Lavagestein, sie haben eine bedrohlich schöne Wirkung. Ob es bald wieder kracht? Alle 100 Jahre, so sagen es die Insulaner, gibt es einen Ausbruch. Die Wanderer blicken auf den Atlantik, auf Teneriffa, auf die Nachbarinseln La Palmas und Gran Canaria. Sie haben Respekt und sind zugleich stolz auf ihre Leistung.

Heimweh an die Elbe

Beim Abstieg nimmt Wanderführer Göhler das Wort „Heimat“ in den Mund. Er meint nicht Teneriffa, er meint Dresden. In Leuben wurde er geboren, wohnte in dem Stadtteil, bis er 25 wurde.

Seine Mutter lebt noch immer dort, einmal im Jahr besucht er sie. Dann hat Göhler Wehmut. Erst weit weg, auf Teneriffa, merkte er, was für ein schönes Land Deutschland doch sei. „Daheim hast du alles, was du zum Leben brauchst: Kultur, Berge, Meer, einen geordneten Staat. Doch das schätzt du erst aus der Ferne.“ Göhler ist sich sicher, dass er eines Tages zurückkehren wird. Nach Dresden, in seine Heimatstadt.

Er liebt es, am Elbufer in Loschwitz zu sitzen oder auf das Barockschloss Pillnitz zu blicken. Und er liebt die Sächsische Schweiz. Da könne er schließlich auch hervorragend wandern. Nur auf Palmenblätter und Lavagestein muss er dann verzichten.