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Die Fabrik mit den Bombenjobs

Wo enden die Fliegerbomben und Granaten aus der Dippser Heide? Ein Besuch in Sachsens Munitionszerlegeanstalt.

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© S. Schultz

Von Jörg Stock

Abbiegung ins Nirgendwo. Eine schmale Straße. Wald. Kurven. Noch mehr Wald. Ein Gittertor. Ich drücke auf die Ruftaste. „Zum gelben Haus!“ Das Gitter ruckt. Da ist das gelbe Haus. Davor Rasen, ein großer Spitzkegel mit Flügelschwanz, ein Kanonenrohr, anderes Gerät, dessen Zweck ich nicht kenne. Es diente zu nichts Gutem, so viel ist sicher. Aber hier ist es nur noch Trophäe. Ich bin in der Kampfmittelzerlegeeinrichtung Zeithain, Sachsens Fabrik zur Verarbeitung tödlichen Schrotts.

Tino Arndt mit einem krepierten Granatenzünder vor dem Detonationsofen.
Tino Arndt mit einem krepierten Granatenzünder vor dem Detonationsofen. © S. Schultz
Felix Jenke am Trommelsieb für Kleinmunition.
Felix Jenke am Trommelsieb für Kleinmunition. © S. Schultz
Der Boden einer Granathülse wird abgesägt.
Der Boden einer Granathülse wird abgesägt. © S. Schultz

Im gelben Haus sitzt Thomas Lange am Schreibtisch. Er raucht, alte f6, wie immer. Von einem Plakat grinst der Sensenmann: „Hände weg von Munition!“ Für Lange, den Leiter des sächsischen Kampfmittelbeseitigungsdienstes, gilt das freilich nicht. Wann immer ich ihn bisher rauchen sah, war es im Angesicht von Bomben und Granaten, die er entschärft hatte. Immer in der Dippoldiswalder Heide. Der „Eiserne Wald“ ist zurzeit die ergiebigste Suchstelle. Über 55 Tonnen Munition wurden dort seit Herbst 2013 ausgegraben. Alles landet hier in der KMZE. Und dann?

Die f6 ist alle. Wir gehen raus. Ins Grüne. Wo ist die Fabrik? Unter der Erde. „Bei uns passiert nichts im Freien“, sagt Thomas Lange. Die Anlagen befinden sich in 18 dicken Bunkern. In der Hitlerzeit gehörten sie zur Heeresmunitionsanstalt. Das ist Ironie der Geschichte: Damals füllte man hier Granaten mit Sprengstoff, heute macht man sie am gleichen Platz kaputt.

Waschtrommel für Rostklumpen

Lange biegt ab. Bunker 13. Hinter dieser Tür geht es nicht um große Kaliber, sondern ums Kleinzeug, Handwaffengeschosse und Geschossfragmente. Rund 25 Tonnen sogenannter Nahkampfmittel fallen jährlich an. Die Suchtrupps ziehen sie als verkrustete Klumpen aus der Erde. Oft ist unklar, ob noch Gefahr von ihnen droht. Deshalb werden sie hier durchgerüttelt, bis der Rost ab ist und man wieder klarsieht.

Ein junger Bursche, Felix Jenke, steht an einer durchlöcherten Trommel. Sie erinnert an eine Waschmaschine. „Nur dass hier keine Klamotten reinkommen, sondern Munitionsschrott“, sagt er. Er hat die „Waschmaschine“ schon bestückt mit einer Masse brauner Brocken. Größere Granatsplitter sind mit dabei. Auch daran kann Sprengstoff haften. Ein riskanter Job? Felix findet nichts dabei. Jeder Beruf ist auf seine Weise riskant, sagt er. „Wenn man weiß, was man tut, passiert schon nichts.“

Thomas Lange zeigt mir das Resultat eines „Waschgangs“. Geschosse und kleine Granaten schimmern matt in blauen Kisten. Er fischt ein aufgeplatztes Zwei-Zentimeter-Projektil heraus. Darin klebt weißliche Masse. Sprengsatz oder harmloser Füllstoff? Jedes dieser Abertausend Stücke wird in die Hand genommen und geprüft. Beim leisesten Verdacht wandert das Teil in die thermische Entsorgung. „Sonst nimmt uns das kein Schrotthändler ab“, sagt Lange.

Thermische Entsorgung – das heißt ausglühen, verbrennen, zur Explosion bringen. Der Komplex, in dem das passiert, ist das Herzstück der Zerlegefabrik. Ganz vorn der Ausglühofen, bis zu 1100 Grad heizbar. Darin werden Waffen so stark erhitzt, dass sie für immer unbrauchbar sind. Ich riskiere einen Blick hinein. Computerfestplatten? Klar! Was mit Gewehren klappt, das klappt auch mit Daten. Diese ausrangierten Speicher der sächsischen Polizei wird garantiert niemand mehr lesen.

Der Detonationsofen ist ein beinahe haushoher, silbrig-blauer Apparat. Da drin, so erklärt Lange, soll sich die Sprengladung von Granaten „detonativ umsetzen“. Anderthalb Stunden dauert es, bis der Ofen auf Betriebstemperatur ist. Ein Förderband füttert ihn von der anderen Seite der Wand her mit Artillerie- und Panzergranaten. Der Ofenbauch hält Explosionen von bis zu anderthalb Kilo TNT aus. Er kann etliche Granaten auf einmal schlucken. Ein Standard-Exemplar, Kaliber 7,5 Zentimeter, enthält nur reichlich dreißig Gramm Sprengstoff. Der Computer zählt nach, wie oft es knallt. Tino Arndt, der die Anlage bedient, zeigt die jüngste Ausbeute: einen großen Container voller KTM-1y, russische Granatenzünder. Die kleinen Eisenkegel, von der Hitze rotbraun gebrannt, sind von ihren Ladungen teils total zerfetzt worden.

Russische Granaten wurden auch in der Dippser Heide entdeckt. Die Rote Armee hatte dort nach 1945 Altmunition aus der ganzen Gegend gesammelt und gesprengt, jedoch sehr stümperhaft. Intakte Granaten verteilten sich im Wald. Zufall: Im selben Gebiet waren im April 1945 zwei amerikanische B-17„Fliegende Festung“ mit voller Last, insgesamt wohl 28 Bomben, abgestürzt. Bis jetzt haben die Suchmannschaften 23 Stück entdeckt. Drei wurden noch im Wald gesprengt, der Rest endete hier.

Der Abbrandofen, etwa so groß wie ein Kleinwagen, ist mit Kameras gespickt. „Ich bin ein Kamera-Freak“, sagt Thomas Lange, „weil ich das sehen will“. Sein Futter kriegt der Ofen scheibchenweise. Die Teller, rußige Eisentiegel, stapeln sich in einer Ecke. Das Vorspiel: Eine 250-Kilo-Bombe, so wie in der Dippser Heide gefunden, wird in einem Bunker mittels Spezialsäge ferngelenkt in zwölf Scheiben geteilt. Weil der Sprengstoff im Freien sehr empfindsam wird, muss er am selben Tag verbrannt werden. Die Scheibe kommt auf den Teller, und dann fährt sie rein in den Ofen.

Wer denkt, TNT ließe sich leicht anzünden, hat sich geirrt. Thomas Lange zeigt das Video eines Brennvorgangs. Sekunde um Sekunde strahlt die Flamme aus dem Brenner gegen die Sprengstoffscheibe. Nichts passiert. Erst, als wir ein wenig vorspulen, blitzt ein orangegelber Feuerball über den Schirm. TNT muss dreihundert Grad heiß werden, ehe es brennt. Es habe schon Granatenscheiben gegeben, die wollten kein Feuer fangen. „Die gingen nur auf, wie ein Soufflé.“ Der Sprengsatz war wohl stark mit Steinsalz gestreckt, in Kriegszeiten ein probates Mittel, um Material zu sparen.

Am Ende der Bunkerstadt beginnt ein Sperrkreis im Sperrkreis. Er umschließt das „Rohstofflager“ der Fabrik, den angelieferten Todesschrott aus ganz Sachsen. Dieses Jahr wird man bei 350 bis 370 Tonnen landen, sagt Thomas Lange. Er öffnet Bunker 3. Anderthalb Meter Beton sind um uns und kaltes Kunstlicht. Gruselig: stapelweise Fliegerbomben. Es müssen an die hundert sein, braune, schrundige Rollen. Das Gute: Statt der Zünder stecken Stofffetzen in ihren Nasen.

Aber eine Bombe hat den Zünder noch. Sie ist so sauber, dass man die hellen Ringe erkennt, die vor über siebzig Jahren um ihren Bauch gemalt wurden. „Original Dippser Heide“, sagt Lange. Er hat die Bombe für Lehrzwecke präpariert, den Sprengstoff mit eigenen Händen herausgeholt. Darf ich mal Sprengmeister sein? Am Zünder schrauben? Wäre der scharf, müssten nur ein paar Millimeter eingedrückt werden und aus Leben würde Tod! Es knirscht ein wenig, aber dann dreht er sich. Keine Störung. Alles ist gut geölt. Grinsend wendet sich Thomas Lange ab. „Ich geh’ lieber“, sagt er. „Bevor Sie einen Fehler machen.“