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Die mutigen Mädchen von Löbau

1956 organisierten Schülerinnen eine Schweigeminute für die Opfer des Ungarn-Aufstandes. Ein Film bringt die Erinnerung daran zurück.

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Von Markus van Appeldorn

Löbau. Die Obercunnersdorferin Christine Parsiegla lebt schon seit annähernd 60 Jahren im hessischen Baunatal. Aber ihre Heimatzeitung, die Löbauer Ausgabe der Sächsischen Zeitung, liest sie bis heute regelmäßig. Meistens im Internet. Und neulich las sie hier die Geschichte über den Film „Das schweigende Klassenzimmer“, der am 20. Februar auf der Berlinale Premiere feiert. In dem Moment hatte auch Christine Parsiegla jenen 29. Oktober 1956 vor Augen, als sei es gestern gewesen.

Christine Parsiegla (rechts) verließ danach noch vor ihrem 18. Geburtstag die DDR. Noch heute pflegt sie die Freundschaft zu ihrer Schulkameradin Rosemarie (links).
Christine Parsiegla (rechts) verließ danach noch vor ihrem 18. Geburtstag die DDR. Noch heute pflegt sie die Freundschaft zu ihrer Schulkameradin Rosemarie (links). © privat
Christine Parsiegla in den 50er Jahren.
Christine Parsiegla in den 50er Jahren. © privat
Der Film „Das schweigende Klassenzimmer“ weckte ihre Erinnerungen.
Der Film „Das schweigende Klassenzimmer“ weckte ihre Erinnerungen.

In diesen Tagen damals tobte in Ungarn der Aufstand gegen das kommunistische Regime. Die Regierung ließ auf Unbewaffnete schießen. Am Ende walzten Panzer der Roten Armee den Aufstand blutig nieder. Und am 29. Oktober rief der Westberliner Sender Rias (Radio Im Amerikanischen Sektor) zu einer Schweigeminute für die Opfer des ungarischen Volksaufstandes auf. Der Film „Das schweigende Klassenzimmer“ erzählt die Geschichte einer DDR-Abiturklasse aus Storkow, die diesem Aufruf folgte – und wie fünf Schweigeminuten das Leben der jungen Männer veränderten.

„Genau das haben wir auch gemacht“, sagt Christine Parsiegla. „Wir“, das war eine 30-köpfige Mädchenklasse der damaligen Löbauer Fachschule. 17 Jahre war sie damals alt und lernte dort den Beruf der Stenotypistin. „Eine Notlösung“, sagt sie. Denn eigentlich hatte sie nach der Oberschule eine Pädagogische Hochschule besuchen wollen. „Ich wurde aber abgelehnt, weil ich als unfähig galt, Kinder im sozialistischen Geist zu erziehen“, erinnert sie sich und setzt nach: „Und mit dieser Einschätzung hatten die sogar recht.“

Rias war damals schon ihr Lieblingssender. „Meine Mutter war immer besorgt. Die hat gesagt: Dein Radio hört man bis auf die Dorfstraße“, erinnert sie sich. Am Morgen des 29. Oktober 1956 hatte sie keinen Westfunk gehört. Aber Christine Parsiegla traf vor Unterrichtsbeginn schon ihre Klassenkameradin Rosemarie aus Kleinradmeritz auf der Straße. Die erzählte aufgeregt, dass der Sender zu einer Schweigeminute für die Opfer der kommunistischen Gewalt in Ungarn aufgerufen habe. Die beiden beschlossen: Da machen wir mit! Und sie überzeugte auch ihre ganze Klasse,

Als kurze Zeit später der Geschichtslehrer das Klassenzimmer betrat, geschah das im sozialistischen Schulalltag Ungeheuerliche. „Wir blieben alle wortlos stehen und rührten uns nicht“, erzählt Christine Parsiegla. Der Lehrer habe damals zuerst an Arbeitsverweigerung geglaubt und verärgert den Klassenraum verlassen mit den Worten: „Wenn Sie es sich anders überlegt haben, ich bin im Lehrerzimmer.“ Nach Ablauf der fünf Schweigeminuten sei sie dann mit der Klassensprecherin ins Lehrerzimmer gegangen und habe die Klasse als bereit zum Unterricht gemeldet. „Mein Gefühl war: Endlich haben wir nicht nur funktioniert, endlich haben wir uns still und leise mit der westlichen Welt verbündet“, sagt Christine Parsiegla.

Doch der stumme Protest blieb für die jungen Frauen nicht folgenlos. „Am nächsten Morgen standen wir vor verschlossener Schultür. Die Klasse wurde sofort ausgesondert“, erinnert sich Parsiegla. Ihnen sei verboten worden, miteinander zu sprechen. Dann erschienen „unbekannte Herren“ und nahmen Christine und andere Klassenkameradinnen einzeln ins Verhör. Die Männer wollten wissen, wer die Rädelsführerin dieser Aktion gewesen sei. „Diese Verhöre, diese Wehrlosigkeit, diese Angst habe ich lange Zeit nicht vergessen können“, erinnert sie sich. Es drohte die Auflösung der Klasse. „Was uns beruflich geblieben wäre, wäre allenfalls eine Fabriktätigkeit gewesen“, sagt sie. Doch die Verhöre blieben fruchtlos. Die Mädchen hielten zusammen. Allerdings: Rosemarie und Christine mussten damals eine Partei-Veranstaltung in Görlitz besuchen. Dort agitierten Genossen vom schrecklichen Treiben der Konterrevolutionäre in Ungarn.

Für Christine Parsiegla stand fest: In diesem Staat möchte sie nicht länger leben. Ausgestattet mit einer Besuchserlaubnis bei ihrem Bruder in Wolfsburg setzte sie sich in den Interzonenzug. Ein Ticket ohne Wiederkehr. Doch ein wenig Heimweh nach der Oberlausitz blieb. „In Wolfsburg habe ich mich nicht so wohl gefühlt“, sagt sie. Doch ein paar Jahre später fand sie eine Anstellung im neuen VW-Werk in Baunatal im Kasseler Bergland. „Beim Anblick der Berge sind mir die Tränen gekommen.“

Jahrelang schwieg sie über die Vorkommnisse. Besonders, weil bis auf Rosemarie alle ehemaligen Klassenkameradinnen in der DDR zurückgeblieben waren. Als der Spiegel die Geschichte der Gymnasiasten aus Storkow 1996 mal aufgreift, schreibt sie an das Magazin, erhält aber keine Antwort. Auch die Produktion des jetzigen Films reagierte nicht auf ihre Post. Aber die Geschichte der mutigen Mädchen von Löbau – nun wird sie doch noch bekannt und gewürdigt.