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Die WG der Vergesslichen

24 Demenzkranke leben im ehemaligen Waldhotel. Eine Alternative zum klassischen Pflegeheim.

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© Arvid Müller

Von Peggy Zill

Gundula Rudolf weiß nicht, welcher Wochentag ist. Auch nach dem Jahr muss sie immer wieder fragen. Den Namen der Frau neben ihr vergisst sie schon nach Sekunden wieder. Aber dass Dorit Birke Gitarre spielt und manchmal mit den Bewohnern singt, daran kann sie sich erinnern. „Die Lieder kannte ich“, erzählt die 81-Jährige.

Körperlich ist sie noch fit, nur das Kurzzeitgedächtnis funktioniert eben gar nicht mehr. Ständig wiederholt sie die alten Geschichten. Deshalb ist sie im Frühjahr in die Demenz-WG im Advita-Haus Waldhotel eingezogen. „Ein bisschen erinnert mich das an meine Internatszeit als Schülerin“, lächelt die Seniorin.

Wann ihre Reise ins Vergessen begann, weiß sie gar nicht mehr. Im vergangenen Jahr lebte sie noch allein in ihrem Haus in einem Dorf bei Waren an der Müritz. „Das war eine sehr schöne Landschaft, aber dort gab es keinen Laden und auch keine Verwandten, die sich regelmäßig um sie kümmern konnten“, erzählt sie. Sich selbst zu versorgen, war daher schwer. Die drei Kinder leben alle in Sachsen.

Gundula Rudolf musste nicht überzeugt werden, ihr Zuhause zu verlassen. „Ich wollte hier her, in die Nähe meiner Kinder.“ Und die 81-Jährige fühlt sich in Weinböhla wohl.

Sehr komfortabel sei das Waldhotel. Besonders weil es Einzelzimmer gibt. „Ich habe selbst im Gesundheitswesen gearbeitet. Da gab es in den Heimen Dreibettzimmer“, erzählt sie. Hier kann sie sich zurückziehen, wenn ihr danach ist oder sich unter Gleichgesinnte mischen.

In das ehemalige Hotel sind nach dem Umbau im Sommer 2017 die ersten Bewohner eingezogen. Von den 40 Wohnungen ist nur noch eine frei. Auch die Plätze in der Tagespflege und in den beiden Wohngemeinschaften für Demenzkranke sind belegt.

Alle Bewohner und Gäste verbringen den Tag gemeinsam. Gefrühstückt wird im ehemaligen Restaurant oder im Sachsen-Dreier. Danach beginnt das Programm: Zeitungsschau, Singen, Spazierengehen, Sport oder auch mal Ausflüge. Auch die Demenzkranken sind bei allem dabei – sofern sie das wollen. „Wir grenzen die Menschen nicht aus“, betont Niederlassungsleiterin Dorit Birke. Die Ängste der Gesunden vor der Demenz führten dazu, dass man den Erkrankten nicht viel zutraue. Sie seien aggressiv oder Wegläufer, hört man häufig in diesem Zusammenhang. „Das stimmt nicht“, sagt Dorit Birke. Jeder Mensch habe nun einmal Eigenheiten – mit und ohne Demenz.

Ein typisches Symptom ist der überbordende Bewegungsdrang. Eingesperrt wird im Advita-Haus deshalb trotzdem niemand. Auch die Demenzkranken dürfen das Haus jederzeit verlassen und spazieren gehen, sofern sie auch wieder nach Hause finden. Die Türen sind nicht verschlossen. Denn einen Schlüssel kann man Demenzkranken dann doch nicht in die Hand drücken. „Die Menschen haben vielleicht die Erinnerung verloren, aber wissen noch, wie man über die Straße kommt“, erklärt Dorit Birke, weshalb man sich nicht zu viele Sorgen machen muss. Viel Bewegung halte schließlich auch körperlich fit.

Schon heute leiden rund 1,7 Millionen Deutsche an Demenz. Pro Jahr erkranken in Deutschland 300 000 Menschen neu. Bis zum Jahr 2050 prognostiziert das Bundesministerium für Familie, Senioren und Frauen einen Anstieg auf drei Millionen.

Man kann die Demenz nicht aufhalten, aber das Gedächtnis und die Fähigkeiten trainieren. Deshalb sollen und dürfen die Bewohner in Weinböhla alles selbst tun, was noch geht. Haare kämmen, waschen, anziehen. Auch wenn es länger dauert. Es rettet Menschen mit Demenz viel Würde. Denn diese zu verlieren und ausgegrenzt zu werden, ist die größte Angst, die Erkrankte haben. „Deshalb gehen viele so spät zum Arzt“, sagt Dorit Birke.

Das Zugeben einer Demenz sei ein schwerer Schritt. Ebenso der Umzug. „Aber wir geben uns große Mühe, dass sie hier so leben können, wie sie möchten.“ Die Bewohner bringen ihre eigenen Möbel mit. Was nicht in die kleinen Zimmer passt, findet Platz im Gemeinschaftsraum. Die Kuckucksuhr, die Schrankwand und der Lieblingsfernsehsessel zum Beispiel.

Das Schönste für Gundula Rudolf ist jedoch, dass sich immer jemand zum Quatschen findet. „Man will sich ja auch mitteilen.“ Im Waldhotel habe sie das Gefühl, noch mitten im Leben zu stecken, nicht einfach nur auf das Ende zu warten.