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Dresden. Nachdenken über ein Geschichtssymbol

Vor gut zwei Wochen berichtete die Sächsische Zeitung, die Dresdner Polizei habe einige Stunden lang zwei Helikopter über dem Stadtgebiet kreisen lassen, um das "Gelände" der Innenstadt "zu sondieren",...

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Matthias Neutzner

Vor gut zwei Wochen berichtete die Sächsische Zeitung, die Dresdner Polizei habe einige Stunden lang zwei Helikopter über dem Stadtgebiet kreisen lassen, um das "Gelände" der Innenstadt "zu sondieren", auf dem die Demonstrationen in den Tagen um den 13. Februar 2009 stattfinden werden - jenen Tag also, an dem die alliierten Luftangriffe auf Dresden vor 64 Jahren erinnert werden.

Die aufwändige, nahezu militärisch anmutende Aufklärung lässt uns vermuten, in welcher Atmosphäre auch dieser Jahrestag begangen werden wird: Äußerlich wird Aufrüstung das Bild bestimmen. Das Stadtzentrum - ein Manöverplatz: Ordnungsrechtlich umfriedete Hoheitsgebiete, gesicherte Aufmarschplätze, abgesprochene Stoßrichtungen, trennende Straßensperren. Die Akteure nach Kräften gerüstet: Neonazis als bürgerliche Trauergemeinde kostümiert und in Zwölferreihen, bunte Gegendemonstranten in konkurrierenden Zügen unter jeweiligen Symbolen, antifaschistische Stadtguerilla in flinken Gruppen konspirativer Kapuzen, Dokumentationsteams aller mit Videotelefon im Anschlag, Hundertschaften der Polizei in Kampfanzügen, mit Mannschaftswagen und Notfallambulanz. Der Verkehr - weiträumig umgeleitet, als habe man auf dem Altmarkt eine noch scharfe Fliegerbombe entdeckt. Die kulturvollen Veranstaltungsorte des Tages zwischen Oper und Kreuzkirche hinter Straßensperren, die manch einem den Zutritt verweigern oder verleiden werden. Undenkbar in dieser umkämpften Stadt ein schweigendes Versammeln mit brennenden Kerzen in der Hand, wie es noch vor zwei Jahrzehnten als tief verwurzelter Ritus untrennbar mit dem Tag verbunden schien. Das leise "Dona nobis pacem" der 1980er Jahre wird neuerlich von schriller Trauermusik, protestierenden Trommeln und dem "Platz da" der Polizeisirenen übertönt werden.

Darunter, weniger sichtbar, aber gleichermaßen umkämpft, befinden sich heute schon und seit langem die Manöverplätze des Erinnerns - mit konkurrierenden Erzählungen, Wertungen und Schlussfolgerungen. Hier werden die eigentlichen Auseinandersetzungen ausgetragen, hier endet die Konfrontation nicht im Weichbild der Stadt, sondern setzt sich fort in einem mindestens europaweiten Diskurs.Es mutet erstaunlich an, dass ein Einzelereignis in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts mit solch argumentativem, emotionalem und materiellem Aufwand erinnert wird. Und tatsächlich erklärt sich dies nicht allein aus dem historischen Geschehen des Jahres 1945. In sechs Exkursen möchte ich versuchen, einige weitere Erklärungsansätze zu geben: Dresden. Nachdenken über ein Geschichtssymbol.

I. Eric und Ron | Dresden als Chiffre

In einem Titel der britischen Gruppe Pink Floyd aus dem Jahre 1983 wird der Ort Dresden erwähnt: "Over Dresden at angels one five." Für eine Übersetzung dieser poetisch klingenden Phrase müssen wir die Tabelle der Funk-Codeworte der britischen Royal Air Force zu Rate ziehen: "angels one five" steht für "15.000 Fuß Höhe". "Dresden" meint unsere Stadt im Februar 1945. "Und heute noch", so heißt es im Text, "fliegt etwas von mir 15.000 Fuß hoch über Dresden." Es ist die Erinnerung der Männer des Bomber Command, der heimkehrenden Kriegshelden, die hier zum Thema wird - eine immer noch schmerzende, unterdrückte Erinnerung an einen mörderischen Krieg, in dem sie mit einer statistischen Überlebenswahrscheinlichkeit von kaum mehr als zwei Dutzend Flügen in ihren Bombern gegen Deutschland starteten. Gut zehn Jahre nachdem dieser Titel veröffentlicht worden war, wurde ich in einer Kneipe in Mittelengland mit Ron, einem stillen, hochbetagten Mann, bekannt gemacht, der alle jene Funk-Codeworte gekannt hatte. Er fragte mich: "Wie sieht Dresden heute aus?" Zu meinen Schilderungen nickte er ohne weitere Erklärungen; erst von Freunden erfuhr ich, er habe ihnen erzählt, als Pilot über Dresden gewesen zu sein. Zurückgekehrt bat ich Historikerkollegen, die Besatzungslisten der im Februar 1945 gegen Dresden eingesetzten Bomberverbände durchzusehen. Der Name meines Gesprächspartners war nicht darunter.

Dennoch: Seine Erzählung ist wahr. Der Städtename "Dresden" in dieser Biographie meint nicht den geografischen Ort oder das darin codierte konkrete Ereignis. "Dresden" steht hier stellvertretend: als Chiffre für die gemeinsamen Erfahrungen einer Gruppe von Menschen. Als Erzählbild, das bei Erzähler und Zuhörer verlässlich gleiche Vorstellungen hervorruft. Zwangsläufig erfährt diese Chiffre unterschiedliche Ausformungen - je nachdem welcher Erfahrungskontext Erzähler und Zuhörer verbindet. Für die Männer des Bomber Command ruft "Dresden" die Erinnerung an existenzielle Gefahr ab, an Heldentum und Tragik - aber auch an Zweifel und Vorwürfe, denen sie sich ausgesetzt sahen, als die Ergebnisse des Bombenkrieges offenbar wurden. Für die weit größere Gruppe derjenigen, die von den Bomben betroffen waren oder es in neuerlichen Kriegen sein könnten, ist mit der Chiffre "Dresden" vor allem das Bild einer totalen Zerstörung verbunden. Dresden war "wie der Mond", so beschrieb es Curt Vonnegut Millionen Lesern seines Romans "Schlachthof 5". Und Richard Peter fügte dem Erzählbild die fotografische Entsprechung hinzu: Der Blick vom Rathausturm über eine endlose Dresdner Trümmerlandschaft, dargeboten in der anklagenden Geste der steinernen Turmfigur im Vordergrund - dieses Motiv ist längst zu einer der Bildikonen des 20. Jahrhunderts geworden.

Alle diese Assoziationen können Erzähler also voraussetzen, wenn sie die Chiffre Dresden verwenden. Immer repräsentiert sie einen Superlativ an Zerstörung, Tod und Tragik. Dies macht "Dresden" auch als Vergleichsgröße verwendbar. Wenn beispielsweise in einem militärischen Kommentar Kritik an den amerikanischen Bombardements im Irak damit abgewiesen wird, man würde Bomben ja nicht mehr wie in Dresden werfen, so kann vorausgesetzt werden, dass den Adressaten dieser Bezug geläufig ist. Dabei wird bereits eine weitere Dimension der Chiffre Dresden deutlich. Denn: Im Vergleich schwingt eine Wertung mit. Möglicherweise war die Zerstörung Dresdens moralisch fragwürdig, so impliziert der Kommentar; beim Einsatz hochmoderner Militärtechnologie mit ihrer hohen Treffsicherheit, die Kämpfende sicher von Zivilisten unterscheidet, würden moralische Bedenken nunmehr aber gegenstandslos. Wir wissen, dass diese Bewertung auf einer zynischen Lüge beruht, wollen dies aber hier auf sich bewenden lassen. Für unsere Betrachtung ist an diesem Beispiel wichtig, dass "Dresden" hier nicht allein als Vergleich Verwendung findet, sondern zum Argument wird.

Bevor wir uns dieser zweiten, bedeutsamen Seite des Geschichtssymbols Dresden zuwenden wollen, möchte ich noch erwähnen, dass die eingangs zitierte Pink Floyd-Produktion dem Vater des Komponisten gewidmet ist: Eric Fletcher Waters starb 1944 als Soldat an der italienischen Front; sein Sohn Roger Waters war ein halbes Jahr alt. Der verbrecherische deutsche Krieg dauerte da bereits fünf Jahre. Die Nazi-Führer waren entschlossen, ihre bereits absehbare Niederlage bis zum Letzten hinauszuzögern und dazu jedes nur denkbare Mittel zu mobilisieren. So wurden die Alliierten gezwungen, den Krieg bis zu Hitlers Berliner Bunker zu kämpfen - auch mit der überlegenen Macht ihrer Bomber. Irgendwo über Deutschland saß dabei auch Ron am Steuer, Monate später nahmen seine Kameraden Kurs auf Dresden. At angels one five.

II. Mister Fair Play | Dresden als Argument

In einem amerikanischen Super Hero Comic aus dem Jahr 1999 retten zwei der schillernden Helden nicht weniger als die ganze Welt. Sie tun dies auch inmitten des brennenden Dresden. Mr. Terrific, auf dessen Shirt in großen Lettern die Aufschrift "Fair Play" prangt, erfährt hier, dass in Dresden unschuldige Menschen sterben. In seiner Empörung darüber zwingt er seinen Gefährten Flash, ihn in Sekunden in das alliierte Hauptquartier zu transportieren, wo es zu einer heftigen Auseinandersetzung kommt. Während der Kommandeur sich mit den Zwängen des Krieges rechtfertigt, reißt sich der Superheld den Fair-Play-Aufnäher von der Brust…Verlassen wir die Comic-Figuren an dieser Stelle. Für unsere Überlegungen jedoch sind Szenerie und Inhalt dieser grellen Bildgeschichte bedeutsam: Das Beispiel Dresden wird hier als Argument in einer Auseinandersetzung über die Moral militärischer Gewaltanwendung verwendet. Und Dresden erscheint dabei als unschuldige Stadt, deren beispiellose Zerstörung nicht gerechtfertigt gewesen sein kann.

An Hunderten weiterer Beispiele kann nachgewiesen werden: Seit mehr als sechs Jahrzehnten wird das Geschichtssymbol Dresden als beispielhaftes Objekt in öffentlichen Auseinandersetzungen verwendet, deren Themen weit über das konkrete geschichtliche Ereignis des 13. Februar 1945 hinausreichen. Dies begann in der Kriegspropaganda der deutschen Nationalsozialisten, die mit der Darstellung der Dresdner Katastrophe die westlichen Alliierten anklagten, die den Durchhaltewillen der Deutschen zu stärken suchten und die vor allem ein Entlastungsargument für eigene Verbrechen konstruierten. Es setzte sich jahrzehntelang in der Systemkonfrontation des Kalten Krieges fort, als die ostdeutsche Führung mit zeitweise enormen Aufwand Dresden zur Anklage gegen den "westlichen Imperialismus" machte. In den folgenden Jahrzehnten suchte sich die DDR mit dem alljährlichen Erinnern an Dresden als Friedensstaat zu legitimieren; mit dem gleichen Verweis auf Dresden wandte sich eine wachsende Opposition im Lande gegen die zunehmende Militarisierung der DDR-Gesellschaft. In Westeuropa und den USA stand Dresden derweil als Symbolort in einer Reihe mit Coventry und Hiroshima - Orte, auf die sich insbesondere die internationale Friedensbewegung in ihrer Auseinandersetzung mit Militarismus und Krieg bezog. Mit Dresden als Argument wurden pazifistische Diskurse geführt; auf Dresden richteten sich symbolhafte Versöhnungsaktivitäten.

Nach 1990 wurde eine weitere Perspektive bedeutsam: Mit deutscher Wiedervereinigung und europäischer Integration waren und sind bislang isolierte Geschichtsbilder zu diskutieren und gemeinsam neu zu vereinbaren. Das ist ohne eine Auseinandersetzung mit den Zentralereignissen des 20. Jahrhunderts in Europa - also dem Holocaust und den Weltkriegen - undenkbar. Dresden ist in dieser Diskussion als Argument in doppelter Perspektive positioniert: zunächst als jahrzehntelang einziger Erinnerungsort an das Leid der Deutschen im Zweiten Weltkrieg, darüber hinaus aber neuerlich auch als universales Symbol für die Folgen militärischer Gewalt gegen Zivilisten und für den Verlust von Kulturgütern im Kriege.

Der Städtename Dresden beschreibt also ein Geschichtssymbol in mehrfachem Sinne: ein typisiertes Erzählbild, eine abrufbare Vergleichsgröße und vor allem ein beispielhaftes Objekt in öffentlichen Auseinandersetzungen. Genau darin liegt die Besonderheit des Dresdner Erinnerns. Der 13. Februar als Jahrestag der Luftangriffe auf Dresden ist eines der wenigen Daten, die einen festen Platz im kanonisierten Jahreslauf des Gedenkens in Deutschland und Europa einnehmen. In einer Art Geschichtslaboratorium wird der Jahrestag zur zyklischen Versuchsanordnung, die einen Einblick in den Zustand unserer Gesellschaft ermöglicht. Dieses alljährliche Experiment findet öffentlich statt, dokumentiert von Medien des ganzen Landes - wenigstens aller fünf Jahre gar von Fernsehkameras aus aller Welt. Dies wiederum macht den Dresdner Gedenktag zusätzlich interessant für geschichtspolitische Aktionen jedweder Couleur: Öffentliches Agieren am 13. Februar in Dresden wird medial wahrgenommen; vor allem jede Provokation findet hier garantierten Widerhall. So wird der Erinnerungsort zur Bühne, der Jahrestag zum Event. Mr. Fair Play aus jenem Super Hero Comic wirkt da schon fast anrührend altmodisch: Selbst das nur temporäre Erschüttern seines Gut-Böse-Weltbilds scheint mir ein produktiverer Denk-Anstoß als manche der grob geschnittenen Parolen, die in den vergangenen Jahren auf der Bühne Dresden ausgeliefert wurden und sich anschließend in den "tubes" der digitalen Wirklichkeit vervielfachten.

III. Anita J. | Dresden als Biographie

Als das 12-jährige Mädchen Anita John am 14. Februar 1945 verletzt aus dem Keller des Hauses Zöllnerstraße 29 geborgen wurde, war sie die einzige Überlebende von 14 Menschen, die dort Schutz vor dem nächtlichen Feuersturm gesucht hatten. Unter den Toten, die sie im Keller zurückließ, befanden sich Mutter und Vater. Vier Tage später waren die Ruinen der Zöllnerstraße beräumt. Die geborgenen Leichen lagen vor den Trümmerhügeln aufgereiht, um registriert und zur Verbrennung auf dem Altmarkt transportiert zu werden. Das Mädchen Anita suchte ihre Eltern und fand sie; ein Soldat zog den Toten die Eheringe von den Fingern und gab sie ihr. Beim Nachdenken über den Erinnerungsort Dresden ist es unabdingbar, die historischen Fakten zu finden, die Mechanismen des Geschichtssymbols zu erforschen, die Dynamik des Erinnerns zu reflektieren. Wenn wir uns damit in den abstrakten Begriffswelten der Geisteswissenschaften bewegen, so birgt das jedoch die Gefahr, die Betroffenen des 13. Februar 1945 als individuelle, tatsächlich getroffene Menschen aus dem Blick zu verlieren. Inmitten der Symbole und Mythen, inmitten von Gebrauch und Missbrauch ist ihr Erinnern vor allem von einem Fakt geprägt: Die Bomben sind, wie es der Philosoph Juan Gutierrez formuliert hat, in ihr Leben gefallen. Und sie haben dort Spuren hinterlassen.

In der Nacht des 13. Februar 1945 hatten Zehntausende Dresdner binnen Stunden Angehörige, Freunde, Nachbarn verloren. Die gewohnten Haltepunkte, an denen sich das Leben bisher ausgerichtet hatte, existierten danach nicht mehr. Nicht nur die Zeugnisse der Stadtgeschichte waren verloren und das städtische Selbstbild von Schönheit und Kunstsinnigkeit vernichtend getroffen, auch die Erinnerungsorte der eigenen, persönlichen Geschichte lagen buchstäblich verschüttet. Zu diesem weit reichenden Identitätsverlust trat die Erfahrung der Luftangriffe selbst; nun waren die Städter zu Flüchtlingen geworden, mit der Erfahrung von Todesangst und Zerstörung im Gepäck.

Die propagandistischen Nutzungen des Geschehens machten es von den ersten Stunden an unmöglich, öffentlich das Erlebte auszutauschen oder gar die Ursachen des eigenen Leids anzufragen. So konnte das ungeheure Entsetzen der erlebten Katastrophe nur privat mitgeteilt werden, während außerhalb strikte Deutungen vorgegeben waren. Auch in den folgenden Jahrzehnten spielten die Erinnerungen und Gefühle der Überlebenden in der Öffentlichkeit nur so weit eine Rolle, wie sie für Gedenkinszenierungen benötigt wurden und sich im Rahmen des offiziell Vorgedachten bewegten. So blieb für eine gemeinsame Reflexion des Erlebten oder gar für abweichende Deutungen nur das private Erinnern und die Nebenöffentlichkeit der Kirchen und Künste. Als die Alliierten im September 1945 die Wirkungen des Bombenkriegs gegen Deutschland untersuchten bilanzierten sie im United States Stategic Bombing Survey: "Das war eine schreckliche Lehre. … Sie wird die deutsche Nation nachhaltig prägen."

Wie nachhaltig, das berichteten 1950 Schweizer Psychologen, die drei Jahre lang Tausende Kinder aus den zerstörten Städten des Ruhrgebiets beobachtet hatten: Sie fanden eine ganze Generation, in deren "lebendige Gegenwart … sich ständig ihre mit schrecklichen Eindrücken überladene jüngste und jüngere Lebensvergangenheit" drängt. Sie bilanzierten eine in dieser Dimension bislang unbekannte, völlig atypische Kindheitsform, deren Wirkungen sie noch nicht einzuschätzen in der Lage waren. "Das es starke Wirkungen sein müssen", so ihr Fazit, "unterliegt keinem Zweifel." Mit den Erfahrungen des Krieges blieben die Kinder allein. Die Überlebensgesellschaft der Nachkriegsjahre verweigerte ihnen das Mitgefühl und verlangte allein Funktionieren; die überforderten Erwachsenen hatten mit sich tun.Die Kinder von damals leben heute als Senioren unter uns - allein in Dresden sind noch mehr als 80.000 Menschen alt genug, um Krieg und Zerstörung hier oder anderenorts bewusst erlebt haben zu können. Ihr Erinnern wird uns, entgegen dem Allgemeinplatz vom Bald-verschwunden-sein der Zeitzeugen, noch manche Jahre begleiten. In ihren Familien lebt ihre Erfahrung, leben ihre Deutungen weiter. Wenn wir Anita John danach befragen, dann wird sie uns auf die wesentlichste Überzeugung ihrer Generation verweisen: Was immer geschieht - Hauptsache kein Krieg.

IV. Ursula H. | Dresden als Verdrängung

Lassen Sie mich die Geschichte eines weiteren Dresdner Mädchens erzählen. Das Sterben der 15-jährigen Ursula Heidrich dauerte sechs Tage. Es begann am 13. Februar 1945. Ursula, in Dresden geboren und in der Striesener Herz-Jesu-Kirche getauft, war einer spastischen Lähmung wegen als 6-Jährige in ein Behindertenheim eingewiesen worden. Im Februar 1945 befand sich das empfindsame und fröhliche Mädchen in der Sächsischen Landesanstalt Großschweidnitz. Dort hatte sie Schreiben und Lesen gelernt, war konfirmiert worden. Am 13. Februar 1945 begannen Ärzte und Schwestern damit, ihr hochdosierte Schlafmittel zu verabreichen, mit denen die Husten- und Schluckreflexe gelähmt wurden. So konnte rasch eine künstliche Lungenentzündung erzeugt werden. Am 14. Februar trat hohes Fieber ein, am 19. Februar starb Ursula Heidrich. Die deutsche Wehrmacht benötigte Raum für Lazarette.

Jahrzehntelang war das Schicksal des Dresdner Mädchens Ursula in ihrer Heimatstadt unbekannt. Mehr noch: Es wäre wohl für die Mehrheit der Dresdner undenkbar gewesen, solche Verbrechen wie die nationalsozialistische Euthanasie mit ihrer Stadt in Verbindung zu bringen. Selbst Victor Klemperer, der als jüdischer Dresdner Augenzeuge und Opfer unsäglicher Verbrechen wurde, beschrieb 1950 in einem Zeitschriftenaufsatz das zerstörte Dresden allein als die "Schönste unter den Schönen". Auch in seiner leidenschaftlichen Anklage gegen den Westen blieb der Glanz der erinnerten Stadt ohne Makel, ohne jeden Verweis auf Schuld. Dies wurde für Jahrzehnte fester Bestandteil der kollektiven Erzählung vom 13. Februar: Die Totale des Feuersturms verdeckte wirkungsvoll die Dresdner Konzentrationslager, die "Judenhäuser", die Baracken der Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen oder das Fallbeil im Hof des Dresdner Landgerichts. Dresden wurde als unschuldige Stadt erinnert. Wie hätte hier auch Schuld sein können - in einer Stadt, die seit der Romantik in Selbstbild und europaweitem Image als Idealort klassischer Kunst und entrückter Schönheit verstanden wurde? Es war genau dieser fest etablierte Stadt-Mythos, der Dresden für die Goebbelssche Propaganda im Februar 1945 interessant machte. Mit Dresden konnte die längst vorbereitete Kampagne gegen den alliierten Luftkrieg gestartet werden. Eine Stadt mit solch weltweiter Reputation als Ort der Künste war leicht als fernab des Krieges zu behaupten; ihrer Zerstörung wurde Stunden nach dem Feuersturm das Prädikat "sinnlos" angeheftet.

Dies blieb jahrzehntelang so: Obwohl sich die DDR aus dem Gründungsmythos einer ungebrochenen antifaschistischen Tradition definierte, war deren politische Führung an einer Auseinandersetzung mit der "faschistischen" Vergangenheit Dresdens nicht interessiert. Viel zu nützlich war die propagandistisch verwertbare Erzählung von der verbrecherisch sinnlosen Zerstörung der unschuldigen Stadt durch die "Imperialisten" des Westens, als das man sich hätte deren Wirksamkeit durch den Hinweis auf eine Mitverantwortung an Völkermord und Krieg beeinträchtigen lassen wollen. So ist das Erinnern an den 13. Februar 1945 jahrzehntelang eben auch ein kollektives Verdrängen, ein gemeinsames Vergessen der Dresdner gewesen. Die DDR-Ideologie hatte auch ihnen angeboten, ohne Umschweife auf die Seite der "Sieger der Geschichte" zu wechseln. Bis in die private Erinnerung hinein wurde dieses Angebot angenommen, die störenden Erinnerungsbilder blieben weithin verdeckt.

Erst in der Mitte der 1980er Jahre brachten unabhängige bürgerschaftliche Gruppen innerhalb und außerhalb der Kirchen diese verdrängte Erinnerung wieder ans Licht. Seitdem gehörte das Bekenntnis eigener Schuld fest zum christlichen Gedenken in Dresden; in den Jahren danach folgten darin Gruppen auch außerhalb der Kirchen. Es brauchte aber bis weit in 1990er Jahre hinein, ehe schrittweise solides lokalisiertes Geschichtswissen verfügbar und langsam auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde. Es ist mir heute wichtig darauf hinzuweisen, dass dies in wesentlichen Aspekten Ergebnis bürgerschaftlichen Engagements in unserer Stadt ist - also lange Jahre nicht von der institutionalisierten Geschichtswissenschaft geleistet wurde, und erst recht nicht von "antifaschistischen" Aktivisten unserer Tage, die heute mit entliehenem Wissen einer ganzen Stadt in Bausch und Bogen anhaltende Geschichtsverdrängung vorwerfen.

Als am 11. Februar 2006 neuerlich Rechtsextreme durch Dresden marschierten, trafen sich Überlebende des Februar 1945 in der Herz-Jesu-Kirche. In einer berührenden Andacht verlas auch Anita John die Geschichte des Mädchens Ursula. Während die braunen Marschierer vorgaben, Dresdner Opfer zu vertreten, setzten die Augenzeugen einem dieser Opfer tatsächlich ein Denkmal. Seitdem bewahrt ein "Mahndepot" die Erinnerung an Ursula Heidrich - an einem von 63 markierten Stadt-Orten, die ein Netz des Erinnerns über Dresden spannen, in dem das "Davor" und "Danach" des 13. Februar nicht ausgespart bleibt.

IV. Nora und Luis | Dresden als Symbol für militärische Gewalt gegen Zivilisten

Am 13. Februar 2003 saßen zwanzig ältere Menschen in der Unterkirche der Dresdner Frauenkirche vor den Fernsehkameras und Fotoapparaten der Presse. Nacheinander standen sie auf und traten ans Mikrofon. Erst ihre Sprache machte deutlich, wer von ihnen in Dresden und wer im baskischen Gernika zu Hause ist. In einer schlichten Zeremonie richteten an diesem Tag Überlebende des deutschen Bombardements auf Gernika im April 1937 gemeinsam mit Dresdner Augenzeugen des 13. Februar 1945 einen Aufruf an die Menschen der Welt, sich einem drohenden neuerlichen Krieg im Irak entgegenzustellen. "Nach den Kriegen des 20. Jahrhunderts", so heißt es in ihrem Text, "waren Überlebende vieler Völker wie wir für Jahrzehnte gezeichnet von den Schrecken, den Verlusten, den Verletzungen, die sie erlitten hatten. … Wir wissen was Krieg wirklich bedeutet - jenseits der Fernsehbilder. Und wir wissen uns eins mit der großen Mehrheit der Menschen der Welt, wenn wir diesen Krieg ablehnen."

Unter den Versammelten befanden sich Nora Lang und Luis Iriondo - beide waren 16 Jahre alt gewesen als ihre Heimatstädte verbrannten. Nora lebte weiter im zerstörten Dresden, Luis Familie floh vor dem Franco-Regime ins Exil. Nora und Luis bezeugen - zusammen mit vielen anderen - das aus Krieg entstandene Leid. Sie beglaubigen es mit der Autorität ihrer Biografie. In ihren Schilderungen geben sie dem anonymen, massenhaften Schicksal der Betroffenen ein Gesicht. Ihre Zeugenschaft ist jedoch nicht nur eine historische, also nicht nur für die Geschichtsschreibung relevant, sie hat vor allem eine moralische Dimension. Die Zeugen erheben die Forderung, dass das historische Geschehen, von dem sie berichten, als wahr anerkannt und nicht vergessen werden dürfe.

Zwangsläufig setzt sich eine solche Zeugenschaft dem Vorwurf aus, unzulässig zu verallgemeinern, unterschiedliche historische Kontexte nebeneinander zu stellen oder jenseits der geschichtspolitischen "Correctness" zu agieren. Und tatsächlich ist der moralische Anspruch nur dann legitimiert, wenn die Zeugen sich dem historischen Geschehen mit allen geschichtlich verbürgten Verantwortlichkeiten stellen. Machen wir es am Beispiel der Überlebenden aus Dresden und Gernika deutlich: Vor ihrem "wir" wird der Vorwurf gegenstandslos. Ihre Gemeinschaft war nur möglich geworden durch mehrfache und intensive Begegnung, durch das Anerkennen von Schuld und Verantwortung, durch Mitgefühl und Solidarität, und vor allem auch durch die Überzeugung, die eigene Betroffenheit in ein Engagement für Frieden und Menschenrechte wandeln zu wollen.

Immer wieder wird jedoch auch deutlich, dass aus dem symbolhaften Zeugnis nicht zwangsläufig gleiche Deutungen oder gar Handlungen entstehen. Nicht selten steht es zudem neben anderen - auch kontroversen - und dabei gleichermaßen bezeugten Erfahrungen. Dies aber macht das Zeugnis von Erinnerungsorten wie Dresden nicht weniger wertvoll. Im Gegenteil: Gerade in einer Welt unübersichtlicher Konflikte, komplexer Verflechtungen von Gewalt und begrenzter, schmutziger Kriege, deren Ursachen oft schwer verständlich und kaum mit simplen moralischen Urteilen bewertbar sind - gerade in einer solchen Welt ist es wichtig, immer wieder die einfache Wahrheit zu bezeugen, dass die Anwendung militärischer Gewalt Leid erzeugt - und dies vor allem bei den Nichtkämpfenden, bei Zivilisten - und dass auf diese Weise neues Unrecht entsteht. Die moralische Zeugenschaft bezieht sich wirksam auf das universelle Recht auf Leben und Menschenwürde. Sie kann helfen, deutlich zu machen, dass sich jedes militärische Engagement und jede Gewalt gegen Menschen - welche Rechtfertigung auch immer dafür verwendet werden sollte - an diesem Menschenrecht messen lassen müssen.

Als ich Ähnliches vor einem Jahr in einer Rede in der Frauenkirche äußerte, wies mich Christoph Ziemer auf eine weitere mögliche Aufgabe des Erinnerungsortes Dresden hin: Seit Jahrzehnten konzentriert sich hier die Auseinandersetzung um Geschichtsbilder. Hier waren und sind Erinnern und Vergessen, Symbolwerdung und Aufbrechen des Symbols, Gebrauch und Missbrauch des Erinnerns exemplarisch zu erleben. All dies wird immer intensiver von gemeinsamem Nachdenken und wissenschaftlicher Reflektion begleitet. Vielleicht können diese Erfahrungen und Erkenntnisse auch über unsere Stadt hinaus von Bedeutung sein.

Zunächst aber gilt es, die moralische Zeugenschaft Dresdens untrennbar mit dem Eintreten für Frieden, Demokratie und Menschenrechte zu verbinden. Nora und Luis waren auch daran beteiligt, diesem Engagement ein Zeichen zu geben. Bei ihrer ersten Begegnung vor einem Jahrzehnt brachte Nora Lang ein sehr persönliches Geschenk nach Gernika: Einen Teller aus dem Brandschutt ihres Elternhauses, dessen Dekor aus roten Rosen sich zur Hälfte in der Hitze des Feuersturms schwarz gefärbt hatte. Dieses Geschenk wurde zu einem Symbol der Versöhnung; es ist heute im Friedensmuseum in Gernika ausgestellt. In den Wochen vor dem 13. Februar 2005 schlug Nora vor, dass die Dresdner Überlebenden dem rechtsextremen Missbrauch der Gedenkzeremonie auf dem städtischen Heidefriedhof ein eigenes Ritual entgegensetzen sollten: Sie würden Blumen nicht vor dem Denkmal der getöteten Dresdner niederlegen, sondern vor der Stele mit dem Ortsnamen Auschwitz.

Ausgewählt dafür wurden Rosen - jene Rosen der Versöhnung, die auf diese Weise aus Gernika zurück nach Dresden kamen. Nora unterbreitete ihren Vorschlag einer Gruppe aus der Dresdner Bürgerschaft, die über Monate hinweg einen programmatischen "Rahmen für das Erinnern" erarbeitet hatte. Dort nun suchte man nach einem verbindenden Zeichen, um sichtbar zu machen, wer sich den formulierten Grundsätzen eines verantwortlichen Erinnerns verpflichtet fühlte. Die Gruppe griff die Rosen der Versöhnung auf. In Erinnerung an den Widerstand der Geschwister Scholl und mit dem Aufruf zu neuerlichem Widerstehen gab man ihnen die Farbe weiß. Am 13. Februar 2005 trugen Tausende Dresdner weiße Rosen als Bekenntnis gegen Krieg, Rassismus und Gewalt.

V. Gladwin Hill | Dresden als deutscher Erinnerungsort

Am Ende des Jahres 1945 wurde es zum ersten Mal einer Gruppe von fünf westlichen Journalisten erlaubt, einige Orte der sowjetischen Besatzungszone zu besuchen. Unter ihnen befand sich Gladwin Hill, Berichterstatter der New York Times, der am 23. Dezember 1945 mit einigem Unbehagen in Dresden eintraf. Hier, so war seine Erwartung, würde man Amerikaner nicht willkommen heißen - in dieser, wie er schrieb, "grauenvollen Geisterstadt". Sichtlich beeindruckt berichtete er seinen Lesern vom ungeheuren Ausmaß der Zerstörungen - dies hatte die deutsche Propaganda nicht übertreiben müssen. War die Kulisse bereits bedrückend, so empfand er eine andere Beobachtung als noch unheimlicher: Die Dresdner begegneten ihm mit stumpfer Teilnahmslosigkeit: keine Anklage gegen die Alliierten, keine Wiederaufbaubegeisterung, kein kritisches Erinnern an die eigene Vergangenheit.

Gladwin Hill hätte ähnliche Beobachtungen in fast allen größeren deutschen Städten machen können. Deren Trümmerlandschaften wurden den Deutschen zu dem Bild ihrer totalen Niederlage. Der Verlust war ungeheuer - ein materieller Verlust, ein Verlust von Lebensräumen und sozialen Beziehungen, von Selbstbildern und Gewissheiten. Noch heute ist den deutschen Großstädten der Krieg anzusehen. Stärker verdrängt, weniger offensichtlich, aber nicht minder wirkmächtig und anhaltend blieb die Leiderfahrung des Bombenkriegs in der Erinnerung der Deutschen bewahrt. Die demütigende Hilflosigkeit, die Anonymität des Tötens, die Plötzlichkeit der Katastrophe, das folgende Elend von Flucht, Entbehrung, Heimatlosigkeit - diese Erfahrungen sind in die Biographien von einigen Millionen Menschen überall in Deutschland eingetragen. Jedoch: Angesichts der Konfrontation mit Holocaust und Völkermord, mit eigener oder gemeinschaftlicher Schuld, hatte diese Erfahrung keinen öffentlichen Raum. Die zerstörten Städte schienen eine gerechte Strafe für die Verbrechen der Deutschen zu sein, die im Wiederaufbau nun schweigend, Stein für Stein abzutragen war.

Zwar wurde überall in Deutschland in beschränktem Maß auch an das Erleben des Bombenkrieges erinnert - mit lokalen Gedenkorten, mit bescheidenen Zeremonien, mit leisem Bericht -, angesichts der überwältigenden eigenen Schuld aber musste jedes Nachfragen nach Motiv, Erfolg oder gar nach der Moral des Bombenkrieges unterbleiben. Anders in Dresden: Als die ostdeutschen Kommunisten ab 1949 Dresden mit grotesken Masseninszenierungen zum Anklageort gegen die "westlichen Imperialisten" machten, wurde ein öffentlicher Erinnerungsraum zugelassen. Zwar waren dessen Deutungen strikt vorgegeben, zwar war das Erinnern der Betroffenen in das Gerüst politischer Dogmen gezwängt - dennoch: das von der NS-Propaganda geformte Symbol deutschen Leids wurde fortwährend bestärkt.

In dieser Zuschreibung strahlte Dresden auch weit in den Westen Deutschlands aus: Die bizarren Erklärungen der DDR-Führung wurden ausgeblendet, die Leiderzählung jedoch weithin aufgegriffen. Als Ort hinter dem Eisernen Vorhang - und damit aus westlicher Sicht in neuerlicher Katastrophe gefangen - konzentrierte Dresden die gemeinsame Erinnerung der Deutschen an den Bombenkrieg. Axel Rodenbergers Buch "Der Tod von Dresden" erlebte in den 1950er Jahren im Westen Deutschlands acht Auflagen und fand mehr als eine Viertelmillion Käufer. Mit keiner der beiden anderen wichtigen deutschen Leiderzählungen war ein so wirkmächtiger Erinnerungsort verbunden - weder die Vertreibung aus dem Osten noch das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion wurden mit einem Symbolort in Verbindung gebracht. So war - und ist - der Erinnerungsort Dresden seit Jahrzehnten eine Projektionsfläche für die deutsche Leiderzählung des 20. Jahrhunderts schlechthin.

Nachdem Gladwin Hill im Dezember 1945 mit Dresdnern gesprochen hatte, bemerkte er vorsichtig, ihre Berichte von der Zerstörung klängen als würden sie vom Einbruch einer "unvermeidlich höheren Gewalt" künden; ihr Ton sei seltsam stolz. Das ist eine interessante Beobachtung: Wie wir gesehen haben war es weder Schuld noch Verdienst der Einwohner Dresdens, dass ihre Stadt zum Geschichtssymbol in mehrfacher Bedeutung wurde. Es scheint aber, als hätten sie sich rasch in diesem Symbol eingerichtet. Vielleicht können wir dies als eine Überlebensstrategie deuten: Vielleicht gelingt das Weiterleben mit der eigenen Leiderfahrung leichter, wenn sie als Teil von etwas Einzigartigem begriffen werden kann.

VI. 13. Februar | Das getriebene Erinnern

Wir haben Dresden und den 13. Februar 1945 in doppelter Symbolbedeutung betrachtet. Lassen Sie uns nun diese Perspektiven zusammenführen und aufzeigen, wie die beschriebenen Symboldimensionen einander beeinflussen: Als weltweit abrufbare Chiffre für exemplarische Kriegszerstörung, für ziviles Leid und für den Verlust von Kulturgut im Krieg ist Dresden ohne nationalen Bezug. Die deutsche Perspektive spielt keine Rolle. Mehr noch: Das Symbol steht weitgehend außerhalb des geschichtlichen Kontextes seiner Entstehung; es transportiert eine mythische Erzählung von universaler Gültigkeit. Genau dies stärkt jedoch die Bedeutung Dresdens als Erinnerungsort für deutsches Leid. Je wirkmächtiger die weltweit anerkannte Symbolerzählung ist, desto stärker gerät auch das deutsche Symbol. Je weiter diese Erzählung jenseits historischer Bezüge steht, desto leichter kann sie als alleinige Opfererzählung behauptet werden.

Genau diese doppelte Symbolhaftigkeit macht Dresden zum geeigneten Ort für deutschen Geschichtsrevisionismus. So wie es die NS-Führung im Frühjahr 1945 angelegt hatte, kann Dresden dazu benutzt werden, deutsche Verbrechen zu relativieren: Wer die Zahl der Dresdner Luftkriegstoten willkürlich und ohne Beleg mit dem Faktor 10, 20 oder gar 50 multipliziert; wer dann gleichzeitig Holocaust und Völkermord entweder leugnet oder auf ein paar marginale Ereignisse reduziert - der kann eine annähernde Gleichheit der Taten und ihrer Opfer konstruieren. Nazideutschland wäre auf diese Weise rehabilitiert und ein Rückbezug auf "nationale Überzeugungen" nicht länger diskriminiert. Auf diesem Grund kann dann das dumpfe Gebäude rechtsextremer Gesellschaftsvorstellungen aus nationaler Überheblichkeit, Rassismus und autoritären Gesellschaftsstrukturen entwickelt werden.

Vor diesem Hintergrund müssen Dresden und der 13. Februar fast zwangsläufig zum Zentralereignis rechtsextremer Öffentlichkeitsarbeit werden: Anders als deren bisherige große Manifestationsorte, die mit NS-Symbolfiguren oder der deutschen Wehrmacht assoziiert sind, bietet der 13. Februar als etablierter Erinnerungsort an deutsches Leid ein ungleich höheres, millionenfaches Identifikationspotential unter den Deutschen. Anders als bisherige Aufmarschplätze, die international weitgehend unbekannt waren, besitzt Dresden als Symbol eine breite internationale Ausstrahlung. Zudem: Aus Sicht der rechtsextremen Akteure bietet der Dresdner Gedenktag eine mediale Bühne mit enormer Reichweite. Gleichzeitig sind sie an diesem Tag vor allzu drastischem Widerstand sowohl von Seiten der Politik als auch der Bürgerschaft geschützt. Mit den tradierten Gedenkritualen vertragen sich die Bilder von parteipolitischer Positionierung, von offener Konfrontation oder gar Gewalt nicht. Und wenn sie doch entstehen, dann werden sie in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit eher dem Widerstand gegen Rechts zur Last gelegt als den rechtsextremen Akteuren selbst.

Diese - sagen wir es im Business-Sprachgebrauch - rundum günstige "Vorteilsargumentation" lässt mich vermuten, dass plakative Gegenaktionen auf der Straße, ein eher phantasieloses "Gleiches mit Gleichem", den rechten Spuk nicht beenden werden. Längst schon bedient man sich auf rechtsextremer Seite viel diffizilerer Mittel in Dresden - von (zwar plumpem, aber eben doch) Straßentheater über Plakataktionen bis hin zu Kleinkunst und Online-Kommunikation.

So wirkt das Dresdner Erinnern getrieben. Datum, Orte und Aktionsformen werden von Rechts vorgegeben. Die öffentliche Aufmerksamkeit konzentriert sich auf die Konfrontationen und Provokationen, die wirksam die Mehrheit der Aktivitäten rund um den 13. Februar und die Mehrheit auch der Akteure verdecken. Eine wohlbedachte, gemeinsame Haltung der demokratischen Stadtöffentlichkeit fehlt; ein gemeinsames Handeln ist folglich nicht möglich.

Was also tun? Mir war es heute vor allem wichtig, die Komplexität der Dresdner Erinnerungssituation aufzuzeigen, ihre symbolische Überformung, ihre historischen Entwicklungslinien. Ich möchte unbedingt den Eindruck vermeiden, ein ausgereiftes Handlungskonzept parat zu haben, das nun nur noch auszuführen wäre. Ohnehin kann ein solches nur im gemeinsamen Nachdenken Vieler entstehen. Wenn wir aber das eben Gehörte weiterdenken, so drängt sich der Eindruck auf, dass die Bürgerschaft Dresdens tiefer und ausdauernder als bislang ansetzen muss, um den rechtsextremen Missbrauch des Dresdner Erinnerns zu verhindern: Das ausdeutbare Symbol Dresden werden wir untrennbar mit unserer Bedeutung verbinden müssen. Dazu ist es unabdingbar, Symbolwerdung und Symbolgebrauch zunächst zu verstehen. Dies ist eine Herausforderung an die Wissenschaft, an die Politik und es ist vor allem eine Bildungsaufgabe. Wir müssen die Bühne "13. Februar" selbst nutzen, ohne den Jahrestag noch mehr zum bloßen Event werden zu lassen. Wir dürfen zudem nicht länger ignorieren, welche wertvollen Impulse sechs Jahrzehnte Dresdner Erinnerns entwickelt haben - statt in selbstgerechter Amnesie eigene Gruppenpositionen mit den Versäumnissen anderer zu begründen. Wir müssen nachhaltig Verbündete gewinnen und Demokratie auch im Miteinander stärken.

Wir dürfen und müssen dazu Forderungen stellen. Etwa an die Frauenkirche: Die legitimierende Selbstverpflichtung aus dem Jahr 1990, ein "christliches Weltfriedenszentrum" zu werden, ist einzulösen. An die Lokalpolitik: Ein gemeinsames Nachdenken jenseits kleinlicher parteipolitischer Egoismen muss beginnen. An die Oberbürgermeisterin: Sie sollte an die klare Positionierung, an das offene und kooperative Engagement der Stadtspitze in den Jahren 2004 und 2005 anknüpfen. Bei alledem, so möchte ich noch einmal betonen, muss die Berechtigung anerkannt sein, an die Erfahrungen, an das Leid, an die Leistungen der Dresdner zu erinnern, die den Zweiten Weltkrieg erlebten. Die rechtsextreme Parole von "Trauer um die deutschen Opfer" ist im Motiv verlogen, im Leugnen deutscher Schuld dreist und in der politischen Konsequenz gefährlich. Der antinationale Gegenruf "Keine Träne für deutsche Täter" ist ahistorisch und faschistoid. Stattdessen sollten wir es als gleichermaßen berechtigt wie unvermeidbar verstehen, dass die eine ganze Generation prägende Erfahrung des Krieges mit all ihren Schrecknissen erinnert wird. Dies ist in Dresden - und darauf kommt es an - seit mehr als zwei Jahrzehnten an die Voraussetzung gebunden, die historische Verantwortung anzuerkennen, der deutschen Schuld bewusst zu sein, das Leid anderer Menschen an anderen Orten solidarisch wahrzunehmen, sich aktiv einzubringen in ein Engagement für Frieden, Demokratie und Menschenrechte. Dazu benötigen wir den Dialog der Generationen. Hier ist Differenzierung im Bewerten, nicht selbstgerechtes Vorurteil notwendig. Die Fähigkeit zum Zuhören und Verstehen, nicht polemisches Zuspitzen. Die Bereitschaft, moralische Maßstäbe nicht nur in der Rückschau, sondern auch an das eigene Handeln anzulegen.

Lassen Sie mich mit einer - vielleicht naiven - Vorstellung enden: Stellen Sie sich vor, die Dresdener Stadtverwaltung könnte in einigen Jahren - wie ihre Schwesterstadt Coventry bereits heute - auf jedem ihrer Briefbögen den Aufdruck "Stadt des Friedens und der Versöhnung" drucken. Und stellen Sie sich vor, diese Zuschreibung wäre nicht nur behauptet, sondern durch vielfältige Anstrengungen aller - in der Stadt und außerhalb - erworben. Das lächerliche Häuflein der braunen Demagogen mit ihren schwarz kostümierten Trachtenvereinen hätte dann lange das Weite gesucht.