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Was über den Dresdner Juwelen-Diebstahl bekannt ist

Zwei Jahre nach dem Einbruch ins Grüne Gewölbe beginnt der Prozess gegen sechs mutmaßliche Täter. Das spektakuläre Verbrechen schockierte nicht nur Sachsen.

Von Alexander Schneider
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Zwei Mitarbeiter der Spurensicherung stehen am 25. November 2019 vor dem Residenzschloss mit dem Grünen Gewölbe hinter einem Absperrband.
Zwei Mitarbeiter der Spurensicherung stehen am 25. November 2019 vor dem Residenzschloss mit dem Grünen Gewölbe hinter einem Absperrband. © Sebastian Kahnert/dpa (Archiv)

Sie tragen Sturmgewehre und Maschinenpistolen. Sie schützen sich mit Helmen und Schilden. Punkt sechs Uhr morgens stürmen vermummte Polizisten mehrere Wohnungen in Berlin. Dort vermuten sie die Männer, die fast auf den Tag genau ein Jahr zuvor einen bis dahin unvorstellbaren Einbruch begangen haben sollen. Bei dem vermeintlichen Blitzeinbruch ins Historische Grüne Gewölbe Dresdens wurden Diamanten und Edelsteine, ganze Schmuckgarnituren von unschätzbarem Wert erbeutet.

1.600 Uniformierte sichern jetzt den Großeinsatz im Berliner Clan-Milieu ab. Nach der Festnahme der Verdächtigen schwingen Polizisten die Vorschlaghämmer, auf der Suche nach den Juwelen zertrümmern sie manche Trockenbauwand in den schicken Großstadtwohnungen.

Doch Fehlanzeige. Bis heute gibt es nicht den leisesten Hinweis auf die funkelnden Diamanten Augusts des Starken. Wie der Einbruch in Sachsens Schatzkammer hat auch der Großeinsatz eine historische Dimension. Die Dresdner Polizei hat ihn monatelang unter strengster Geheimhaltung vorbereitet. Nicht einmal die Berliner Kollegen sind eingeweiht. Angeblich gab es bisher bundesweit keinen größeren Polizeieinsatz aufgrund eines Einbruchs.

Doch es handelt sich auch nicht um irgendeinen Einbruch. Die Tat an jenem Montag, dem 25. November 2019, hatte nicht nur Sachsen, sondern ganz Deutschland schockiert und weltweit Schlagzeilen gemacht. Die Durchsuchungsaktion und die ersten Verhaftungen mutmaßlicher Täter waren Ende 2020 der erste sichtbare Schritt einer beginnenden Therapie des Traumas.

Am kommenden Freitag beginnt nun der Prozess gegen die sechs Angeklagten vor der Jugendkammer des Landgerichts Dresden. Phase 2 von Sachsens Traumatherapie, wenn man so will. Die Männer im Alter von 22 bis 28 Jahren schweigen bislang. Es sind Deutsche mit türkisch-arabischen Wurzeln, die alle den gleichen Nachnamen tragen: Remmo. Eine bekannte Berliner Großfamilie, die immer wieder mit aufsehenerregenden Straftaten auffällt.

Das Fenstergitter des Preziosenzimmers durchtrennen die Täter offenbar schon Tage bevor sie ins Grüne Gewölbe einsteigen. Da müssen sie das wieder angeklebte Gitter nur noch abnehmen.
Das Fenstergitter des Preziosenzimmers durchtrennen die Täter offenbar schon Tage bevor sie ins Grüne Gewölbe einsteigen. Da müssen sie das wieder angeklebte Gitter nur noch abnehmen. © P.M. Hoffmann

Es wird in dem Prozess um viele Fragen gehen, die auch heute noch die Liebhaber der gestohlenen sächsischen Kunstschätze auf der ganzen Welt umtreiben. Ist ein derartiger Kunstdiebstahl ohne Insiderkenntnisse überhaupt vorstellbar? Sind junge Männer Anfang, Mitte 20 in der Lage, eine solche von langer Hand geplante und gut abgestimmte Tat alleine durchzuführen? Gibt es heimliche Helfer, die zur rechten Zeit für freie Bahn sorgten?

Nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft erbeuteten die jungen Remmos nicht nur die weltberühmten Schmuck-Garnituren aus dem Historischen Grünen Gewölbe der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD). Nach der Flucht steckten sie eine Tiefgarage in Brand, in der ihr Fluchtwagen stand. Zu den Vorwürfen zählt daher neben schwerem Bandendiebstahl auch schwere Brandstiftung.

Es ist eine Tat, die Museumsmitarbeiter wie Kunstliebhaber gleichermaßen schockte – und vielleicht auch ein bisschen fasziniert. Auch noch zwei Jahre und zwei Monate danach: Die Kaltschnäuzigkeit, mit der sich die Einbrecher bedienten. Die scheinbare Leichtigkeit, mit der sie ihren Coup durchzogen. Die Dreistigkeit, mit der sie vorgingen. Die Brutalität, mit der sie Hindernisse überwanden. Die Rücksichtslosigkeit, mit der sie ihre Spuren verwischten. Und nicht zuletzt die Unverfrorenheit, mit der sie sich in ihrem Berliner Kiez in Sicherheit wähnten.

Für das größte Entsetzen dürfte eines gesorgt haben: der kriminelle Scharfsinn der Täter. Sie haben exakt die Schwachstellen gefunden, die den Einbruch erst ermöglichten. Das öffnet Raum für Spekulationen und Mutmaßungen in viele Richtungen – von der naheliegenden Version eines sogenannten Inside-Jobs, also der Beteiligung von Insidern wie etwa Wachleuten, bis hin zu abstrusen Verschwörungserzählungen.

Die Planungen für den Einbruch ins Historische Grüne Gewölbe beginnen wohl schon im Sommer 2019. Da verkauft ein Mann aus Sachsen-Anhalt seinen Audi A6 Sportback. Der Käufer könnte ein Komplize der Täter gewesen sein. Mit diesem Auto jedenfalls flüchten die Einbrecher später samt Beute vom Dresdner Schloss in die Tiefgarage einer Wohnanlage im Stadtteil Pieschen. Dort stecken sie den Wagen in Brand, um Spuren zu vernichten und wohl auch um die Einsatzkräfte abzulenken. Ein Autokauf für 3,7 Kilometer Flucht.

Mit wuchtigen Axtschlägen zertrümmern sie das Sicherheitsglas der Vitrine in nur 30 Sekunden. Dann reißen sie die an der Unterlage angenähte Beute heraus und flüchten.
Mit wuchtigen Axtschlägen zertrümmern sie das Sicherheitsglas der Vitrine in nur 30 Sekunden. Dann reißen sie die an der Unterlage angenähte Beute heraus und flüchten. © P.M. Hoffmann

Wussten die Täter, dass sie kurz nach 5 Uhr morgens ungehindert in die Tiefgarage gegenüber dem Ballhaus Watzke fahren können? Nein, das braucht Vorbereitung. Unmittelbar vor dem Einbruch wurde der Audi vor dem Watzke von einer Überwachungskamera aufgenommen. Fahrtrichtung Innenstadt. Die Männer kannten also schon vor der Tat die erste Station ihrer Flucht.

Besonderheiten wie diese reihen sich aneinander wie die Juwelen auf einer Epaulette. So nennt man das Schulterstück einer Uniform. Zur Beute gehörte eine besonders wertvolle Epaulette, in deren Zentrum der "Sächsische Weiße", ein etwa drei mal drei Zentimeter großer Diamant mit 49 Karat, glitzert, umringt von zig kleineren Steinen. Nach diesem Schmuckstück von immensem Wert hat die Dresdner Polizei ihre Sonderkommission benannt.

40 Beamte ermitteln in der "Soko Epaulette" bis heute, suchen Beweise, untersuchen Spuren. Sie schicken selbst speziell ausgebildete Mantrailer-Hunde auf die Spur in der Hoffnung, die Täter einkreisen zu können. Die Ermittler werten Handys aus und versuchen sich einen Reim auf alles zu machen. 325 Aktenordner haben sie gefüllt und noch längst nicht alles überprüft. Allein die sichergestellten Datenträger umfassen mehr als 900 Terabyte Volumen. Wie hält man 40 Kriminalisten über zwei Jahre bei der Stange? "Wir sind nach wie vor absolut motiviert", wird Soko-Chef Olaf Richter von der Pressestelle der Dresdner Polizei zitiert. "Es ist der Fall überhaupt." Es sei allen Kollegen bewusst, dass sie an etwas Besonderem mitwirken.

Auch an einem zweiten Tatort finden Vorbereitungshandlungen statt: dem Pegelhaus der Augustusbrücke, 180 Meter vom Grünen Gewölbe entfernt. Dort steckten die Täter Elektroverteiler in Brand. Durch das Feuer fiel der Strom aus und verdunkelte die Straßenlaternen rund ums Schloss. Woher konnten die Einbrecher das wissen? Sie sollen schon Tage zuvor ins Pegelhaus eingedrungen sein und einen Feuerlöscher in die Elbe geworfen haben. Am Tattag zündeten sie dort einen Topf mit Brandbeschleuniger an. Sie wussten offenbar, wo sie ihn zu platzieren hatten.

Zwei Wachmänner verfolgen auf den Monitoren ihrer Sicherheitszentrale diese Szenen. Sie rufen die Polizei, die auch schnell kommt. Aber da sind die Täter schon verschwunden.
Zwei Wachmänner verfolgen auf den Monitoren ihrer Sicherheitszentrale diese Szenen. Sie rufen die Polizei, die auch schnell kommt. Aber da sind die Täter schon verschwunden. © P.M. Hoffmann

Der eigentliche Einbruch ins Schloss könnte nach Erkenntnissen der Ermittler ebenfalls einige Tage zuvor begonnen haben. So durchtrennen die Täter angeblich schon in der Nacht vom 19. zum 20. November das eiserne Fenstergitter des Preziosenzimmers. Als sie dann am 25. November kurz vor fünf Uhr früh in absoluter Dunkelheit über den Zaun klettern und vor dem Fenster stehen, müssen sie das durchtrennte und wieder angeklebte Gitter nur abnehmen.

Die gewonnene Zeit brauchen sie, um im Juwelenzimmer die Vitrine aufzuschlagen. Das grob verpixelte Schwarz-Weiß-Video, in dem die Tat zu sehen ist, ging später um die Welt. Man sieht zwei dunkle Gestalten, einer schlägt mit wuchtigen Axthieben das Sicherheitsglas ein, in nur 30 Sekunden. Dann reißen sie die an der Unterlage angenähte Beute heraus und flüchten.

Zwei Wachmänner verfolgen auf den Monitoren ihrer Sicherheitszentrale diese Szenen. Um 4.59 Uhr wählen sie den Polizeinotruf. Als die ersten Beamten fünf Minuten später den Haupteingang des Museums erreichen, sind die Täter möglicherweise noch vor dem offenen Fenster – oder gerade verschwunden. Sie fallen niemandem auf. In dem Audi rasen sie auf dem Fußgängerweg über die wegen Bauarbeiten gesperrte Augustusbrücke. Das spart wieder wertvolle Zeit. Auch das muss man wissen und können. Es wird Teil ihres Plans gewesen sein.

Spektakulär ist auch die Flucht. Dem verheerenden Feuer in der Tiefgarage fallen mehr als 60 Autos zum Opfer. Menschen in den Wohnungen darüber werden gefährdet – einige atmen Rauchgas ein, das durch Schächte in ihre Wohnungen dringt. Da sitzen die Täter wohl längst in ihrem zweiten Fluchtwagen, einem E-Klasse-Mercedes. Mit beigefarbenen Folienbeklebungen und Schild auf dem Dach hatten sie dem Wagen das Äußere eines Taxis verpasst. Selbst das falsche Kennzeichen soll zu einem echten Dresdner Taxi-Unternehmen gepasst haben. Kurz nach halb sechs Uhr werden sie auf der Autobahn von Dresden nach Berlin geblitzt. Während die Polizei ihre Fahndung startet, dürften die Einbrecher den brisanten Bereich längst verlassen haben.

In Berlin jedoch scheinen sie leichtsinnig zu werden. Am 17. Dezember, drei Wochen später, fällt einem Passanten ein unverschlossen abgestellter Mercedes auf, der niemandem zu gehören scheint. Er meldet das der Polizei. Die herrenlose Limousine wird auf ein Polizeigelände geschafft. Eine Woche später passiert wieder etwas Ungewöhnliches. Am ersten Weihnachtsfeiertag dringen Unbekannte in das umzäunte Gelände ein, stehlen das Navigationssystem aus dem Mercedes und stecken auch ihn in Brand. Das Auto brennt nicht total aus. Ermittler sichern DNA-Spuren und finden Rückstände der Taxi-Verkleidung. Die genetischen Spuren passen zu drei Männern aus dem Remmo-Clan.

Nur 3,7 Kilometer fahren die Täter mit einem Audi A6 Sportback. In einer Tiefgarage in Dresden-Pieschen stecken sie das Fluchtauto in Brand.
Nur 3,7 Kilometer fahren die Täter mit einem Audi A6 Sportback. In einer Tiefgarage in Dresden-Pieschen stecken sie das Fluchtauto in Brand. © P.M. Hoffmann

Nach und nach gelingt es den Beamten der "Soko Epaulette", die Spuren zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen. An der Fassade des Dresdner Schlosses, dort, wo sie eingebrochen sind, werden DNA-Spuren gefunden. Auch andere Hinweise, etwa die Auswertung von Telekommunikationsdaten oder der Einsatz einer akkubetriebenen Hydraulik-Schere, mit der die Gitterstäbe durchtrennt worden sein sollen, führen die Ermittler zu dem Berliner Clan. Angehörige der Familie hatten bei früheren Taten dieses Werkzeug eingesetzt.

Zwei der nun Angeklagten wurden im März 2020 für ihren ähnlich dreisten Einbruch in das Berliner Bode-Museum verurteilt. Dort hatten sie 2017 eine 100 Kilogramm schwere Goldmünze im Wert von knapp vier Millionen Euro erbeutet. Wissam (25) und Ahmed (23) Remmo erhielten Jugendstrafen von je viereinhalb Jahren. Jetzt gehören sie zu den sechs Remmos, die auch "Sachsens Weißen" und Tausende andere Edelsteine gestohlen haben sollen.

Von dem Prozess, der am Freitag in Dresden beginnt und wohl Monate dauern wird, erhoffen sich viele eine Spur zu den Steinen oder gar deren Rückgabe. Das könnte etwa über eine Verfahrensverständigung erzielt werden nach dem Motto Geständnis und Schmuck gegen milde Urteile. Bislang haben die Angeklagten keinerlei Angaben gemacht. Wie ihre 14 Verteidiger darüber denken, ist nicht ganz klar. Ines Kilian und Carsten Brunzel, zwei der vier Dresdner Remmo-Anwälte, sagen, ein solches Interesse sei bislang weder von der Staatsanwaltschaft noch vom Gericht an sie herangetragen worden.

Das Auffinden der Diamanten in dem Prozess wäre ein unerwarteter Erfolg und ein großer Schritt, die mit dem Einbruch geraubte "kulturelle Identität der Sachsen", wie es Innenminister Roland Wöller einmal formulierte, wiederherzustellen. Die Direktorin der Staatlichen Kunstsammlungen Marion Ackermann sagt, ihre Hoffnung, die Garnituren zurückzuerhalten, sei nie so groß gewesen wie jetzt. Es sei ein gutes Zeichen, dass bisher weltweit kein einziger Stein aufgetaucht sei. Kenner der kriminellen Milieus jedoch halten es für so gut wie ausgeschlossen, dass der Clan den Schmuck herausgeben würde, sollte er ihn überhaupt haben.