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Anonymer Alkoholiker in Dresden: "Ich bin an mir selbst gescheitert"

Ein Mann trinkt, bis er abstürzt. Nun ist er seit acht Jahren trocken. Für ihn die schönste Zeit seines Lebens. Wie ihn eine Gruppe in Dresden unterstützt.

Von Christoph Pengel
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"Jeder findet seinen eigenen Weg ins nüchterne Leben", sagt der 57-Jährige beim Interview im Großen Garten in Dresden.
"Jeder findet seinen eigenen Weg ins nüchterne Leben", sagt der 57-Jährige beim Interview im Großen Garten in Dresden. © Sven Ellger

Dresden. Plötzlich war Jörg verschwunden. Alle suchten nach ihm. Seine Frau, seine Freunde, seine Kinder. Aber er wollte keinen sehen. Wollte niemanden sprechen. Wollte einfach nur noch trinken und vergessen. Eine ganze Woche blieb er in seinem Versteck. Bis er am Ende war.

Es sollte seine letzte Sauftour werden. Das Ende war zugleich ein Anfang. Vor gut acht Jahren, am 22. Mai 2014, hat Jörg mit dem Trinken aufgehört. Von einem Tag auf den anderen. Seitdem ist er trocken geblieben. Ohne Rückfälle. "Ich habe die Freude am Leben entdeckt", sagt er heute. 57 Jahre ist er alt.

Eigentlich heißt Jörg anders, seinen echten Namen will er nicht nennen. Er hat auch Zweifel daran, ob alle seine Geschichte begreifen. Letztlich, sagt er, könne nur ein Alkoholiker verstehen, was in einem Alkoholiker vor sich geht. Nur ein Alkoholiker weiß, wie sich die Sucht auf dem absoluten Tiefpunkt anfühlt. "Wir nennen es Kapitulation", sagt Jörg.

Mit "wir" meint er die Anonymen Alkoholiker. Nicht nur die Dresdner Gruppe, die er regelmäßig besucht. Auch die Gruppen in Pirna, Berlin oder Magdeburg. Ein riesiges, weltweites Netzwerk. Egal, in welcher Stadt er gerade ist: Jörg kann zu einem der lokalen Treffen gehen und findet Unterstützung. "Das ist die beste Therapie, die ich jemals hatte. Denn da sitzen nur Spezialisten. Menschen, die nachvollziehen können, was ich selbst erlebt habe."

"Ich war immer der Meinung, dass ich recht habe"

Jörg war 23, als sein Alkoholkonsum deutlich zunahm. Als Elektriker war er ständig auf Montage. Nach dem Feierabend traf er sich mit anderen Handwerkern. Und trank Bier. Er kam viel herum. Österreich, Dänemark, Schweiz. Pro Woche fuhr er bis zu 2.000 Kilometer mit dem Auto. Länger als zwei Jahre hielt er es bei keiner Firma aus. Er brauchte stets was Neues. War getrieben von Unruhe und Abenteuerlust.

Wer Jörg heute trifft, sieht einen entspannten Mann, der immer einen Spruch auf den Lippen hat. "Reich ist man, wenn es reicht", sagt er zum Beispiel. Oder: "Ich bin besonders, aber nichts Besonderes." Er ist sportlich, dreht gern große Runden mit dem Rad, muss aber niemandem beweisen, wie schnell er dabei ist. "Das Montagefahren", sagt Jörg, "war eine Flucht vor mir selbst. Ich konnte mich zum Beispiel nie im Spiegel sehen. Ich hab da zwar reingeguckt, hab irgendwas gekämmt, rasiert oder sonst was. Aber mir wirklich in die Augen zu sehen, das konnte ich nicht."

Den früheren Jörg, den Mann, der Alkoholiker war, ohne es zu wissen, beschreibt er heute als aggressiv, überheblich, stolz. "Ich war immer der Meinung, dass ich recht habe. Und dass ich alles allein machen muss, weil die anderen zu doof sind."

Jörg machte sich selbstständig, aber das ging gründlich schief. Dabei wurde der Alkohol immer wichtiger für ihn. Mithilfe von Bier und Schnaps konnte er sich der Illusion hingeben, dass er sein Geschäft schon irgendwie auf die Reihe bekommen würde. In der Realität ging es bergab. Bald macht er nur noch so viel, dass er einigermaßen leben und vor allem: trinken konnte. "Ich bin an mir selbst gescheitert", sagt Jörg.

Dass er ein Problem hatte, war ihm längst klar. Aber der Gedanke, dass er Alkoholiker sein könnte, kam Jörg noch immer nicht in den Sinn. Auch nicht, als seine Tochter mit traurigen Augen vor ihm stand und sagte: "Papa, ich glaube, du trinkst zu viel."

Der letzte Absturz

Dann kam der letzte, große Absturz, der eine Woche dauern sollte. Jörg versteckte sich in der Wohnung seiner Mutter, die aus irgendwelchen Gründen nicht zu Hause war. Als sie zurückkam, fühlte er sich komplett zerstört. Im Garten mähte die Mutter den Rasen, Jörg trottete hinterher. Sie fragte ihn, ob er ein Bier trinken will, und Jörg sagte: "Nee. Nie wieder."

Nie wieder. So würde er das jetzt nicht mehr ausdrücken. Bei den Anonymen Alkoholikern geht es immer nur um den heutigen Tag. Bleib heute nüchtern! Bei weitem nicht alle schaffen, was Jörg geschafft hat: So lange trocken bleiben, dass er im Supermarkt ohne jede Versuchung am Schnapsregal vorbeigehen kann.

Einfach war das auch für ihn nicht. Am schlimmsten waren die ersten Tage. Jörg litt unter dem kalten Entzug, er hatte Schweißausbrüche. Seine Hand zitterte so heftig, dass es fast wie ein Winken aussah. Wegen Depressionen kam er in eine Klinik. Dort musste er etwas tun, was er gar nicht mochte: sich helfen lassen.

Deshalb war er auch zurückhaltend, als eine Freundin ihn zu den Anonymen Alkoholikern mitnahm. Heute sagt Jörg: "Das hat mein Leben komplett auf den Kopf gestellt." Wenn er jetzt in die Gruppe kommt, sagt er: "Ich bin Jörg, Alkoholiker". Er redet, alle hören zu. Er bedankt sich, dann ist der nächste dran. Aber niemand, und das weiß er besonders zu schätzen, gibt ungefragt Ratschläge. Niemand bewertet, was er mit der Gruppe geteilt hat.

Die vergangenen acht Jahre waren für Jörg: "Die schönste Zeit meines Lebens." Er ist gelassener geworden. Er muss nicht immer recht haben. Er hat Kochen gelernt. Er kann jetzt Kuchen backen. Er hat entdeckt, dass er so was wie einen eigenen Geschmack hat. Er kauft seine Kleidung selbst, erledigt den Haushalt. Früher machte das alles seine Frau, von der er sich nun getrennt hat.

Vor allem aber rennt Jörg nicht mehr vor sich selbst weg. Er war schon eine Weile trocken, als er vor ein paar Jahren mal wieder in den Spiegel schaute. Was dort herausguckte, gefiel ihm auf einmal. "Da kümmere ich mich jetzt drum", sagte er sich.