Fotos im Fokus

Dresden. Der alte Herr will keinen Stuhl. Gestützt auf seinen Stock hat er den Fußweg bis hierher ins Fotokabinett in der Dresdner Neustadt geschafft. Jetzt schaut er im Stehen prüfend auf seine Fotos, farbig, dreizehn mal neun. Stadtansichten und Familienfeiern. Dann packt er die Abzüge und den entwickelten Film in der Plastikkapsel zufrieden lächelnd ein.
Seit einiger Zeit kommen nicht mehr nur ältere Kunden mit ihren belichteten Filmen ins Geschäft. "Immer mehr junge Leute interessieren sich wieder für die analoge Fotografie", sagt Ute Grohmann. Das sei wie mit den Schallplatten, auch die erleben eine Renaissance. Regelrechte Engpässe gebe es bei der Lieferung der Negativfilme sogar. Früher standen sie in Drogerien im Regal. Jetzt findet man sie überwiegend im Fachhandel.
Ute Grohmann kann nicht mehr viel erstaunen. Seit mehr als 30 Jahren arbeitet sie in einer Branche, deren Entwicklung in Siebenmeilenstiefel vorangeht. Von Kindheit an hatte sie mit Fototechnik zu tun. Ihr Vater betrieb in Kleinzschachwitz eine Reparaturwerkstatt für Pentacon-Kameras. "Ich bin immer davon ausgegangen, dass ich sie eines Tages übernehmen würde", erzählt die 62-Jährige. Dass es dazu nicht kam, hatte mit verschiedenen Naturgewalten zu tun.
Zur rechten Zeit am rechten Ort
Frisch vom Studium begann sie als junge Verfahrenstechnikerin, zunächst als wissenschaftliche Assistentin an der Ingenieurshochschule zu arbeiten. Drei Jahre vor der Wende ging sie als Technologin zu Pentacon in die Endmontage. "Da haben wir am Monatsende von früh bis spät neue Kameras repariert, damit die Lieferzahlen stimmen." Dass nicht zu knapp Fehlerhaftes vom Band kam, sei üblich gewesen. Das letzte Kamera-Paradestück aus DDR-Produktion: die Praktica BX 20 Spiegelreflexkamera. "Dafür habe ich damals die Bedienungsanleitung geschrieben."
Privatisierung, Umstrukturierung, Abwicklung - den Beschäftigten des VEB Pentacon Dresden wurde ab 1990 rasch klar, dass ihre Arbeitsplätze wohl nicht zu retten sein werden. Da erfuhr Ute Grohmann von einer Werbeveranstaltung, zu der das Unternehmen Kodak ins Dresdner Rathaus einlud. Was hatte sie zu verlieren? Einen Job, der ohnehin ein Auslaufmodell war, und eine Chance, von der es zu dieser Zeit nicht all zu viele gab.
Ute Grohmann sitzt am quadratischen Tisch hinter den Kulissen ihres Fotokabinetts an der Rothenburger Straße. Sie hat Kaffee gekocht. Noch ist es ruhig im Geschäft. Der betagte Herr ist mit seinen Fotos auf dem Heimweg, und die Chefin des Ladens erzählt aus der Vergangenheit. Froh und doch verwirrt über die politischen Veränderungen, unsicher ob der wirtschaftlichen Lage, neugierig auf das was kommen wird - in dieser einmaligen Gemengelage war sie zur Kodak-Veranstaltung gegangen. Das Unternehmen wollte sich den ostdeutschen Markt erschließen und suchte Außendienstler.

Präsentation, Schulung und festliche Abendveranstaltung, Ute Grohmann fühlte sich zur rechten Zeit am rechten Ort für die Flucht nach vorn. "Ich habe den Firmenchef einfach gefragt, ob er einen Job für mich hat." Wenig später unterschrieb sie ihren neuen Arbeitsvertrag, saß in einem Firmenwagen und fuhr kreuz und quer durchs Gebiet der bald ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik.
"Es gab kein Internet, kaum Telefone, und ich musste mir einen Kundenkreis aufbauen." So wurden Telefonbücher ihre besten Freunde. Darin blätterte sie nach Fotogeschäften. "Oft bin ich einfach in Richtung Kirchturm einer Ortschaft gefahren, auf dem Marktplatz aus dem Auto gestiegen und habe mich zum Fotoladen durchgefragt." Sohn Jörg war gerade in die Schule gekommen. Oma und Tante sprangen ein, wenn Ute Grohmann über ewige Landstraßen rollte, um Geld zu verdienen.
Eine wilde, spannende, erfolgreiche Zeit, an die sie gern zurückdenkt. Wie sehr der Aufbruch in ein neues Leben ihre Seele aufwühlte, das spürt sie auch mehr als 30 Jahre später noch. Da glitzern Tränen in ihren Augen und die Hände umspannen fest den Kaffeepott. Durch die Wand zum Verkaufsraum hört sie ihren Sohn mit Kunden sprechen, voller Enthusiasmus. Alles richtig gemacht. Das sieht auch Jörg Grohmann so, der seit gut zehn Jahren eingestiegen ist. Als Soldat war er gerade im Kosovo im Einsatz, als seine Mutter ihn anrief und sagte: "Ich übernehme das Fotokabinett Grunert und mache mich selbstständig." Das Gespräch wird er nie vergessen.
Drei Jahre zuvor war die Kleinzschachwitzer Kamerawerkstatt seines Opas in der Jahrtausendflut versunken. Die Wende hatte er mit seinem Geschäft halbwegs überstanden. Doch das Hochwasser spülte nicht nur Schlamm in jede Feinmechanik, sondern auch Großvaters Kraft für einen Neuanfang fort. In einer Vitrine bewahrt Ute Grohmann einige der Flutopfer auf, darunter auch besagte Praktica BX 20.
Corona verhagelt doppeltes Jubiläum
Nun liegt wieder eine verstörende Zeit hinter dem Familienunternehmen. Wochenlang blieb das Fotokabinett wegen Corona geschlossen. Inzwischen sind die Maschinen wieder gut ausgelastet. Sie arbeiten auch für große Kunden, wie die Staatlichen Kunstsammlungen, Unternehmen, Agenturen, Restauratoren. Früher brachten zahlreiche Pressefotografen ihre Filme zur Schnellentwicklung. Noch am Abend mussten die Fotos druckbereit sein. Heute arbeiten die Fotoreporter digital.
In Ute Grohmanns Fotoatelier ist Handarbeit genau so gefragt wie Automatisierung. Modernste Technik und Fachwissen machen fast alles möglich. Kunden suchen persönliche Beratung oder bestellen Fotoprodukte über den neuen Web-Shop. Die leben zum Teil sehr weit weg, in Belgien, Schweden oder Italien. Doch nicht einmal mit ihren treuesten Dresdner Kunden konnten Ute und Jörg Grohmann ihr Jubiläum feiern: die Gründung des Fotokabinetts vor 30 Jahren und die 15 ereignisreichen Jahre, die Ute Grohmann das Geschäft nun führt. "Das ist leider alles ein bisschen untergegangen", sagt sie. Die Zeit aber bleibt mit oder ohne Corona ganz auf ihrer Seite.