"Viele sind genervt von den Spaziergängen"

Dresden. Sein Alltag dreht sich um alte und kranke Menschen, aber am Samstag steht er kurz selbst im Mittelpunkt: Tobias Kraftzyk, ambulanter Pfleger, nimmt das Mikro in die Hand. "Jeder von euch weiß, wie unsere Arbeit aussieht", sagt Kraftzyk. Er wolle gar nicht lange reden, doch ein paar Dinge, so scheint es, müssen raus. Viele Mitarbeiter aus dem Gesundheitswesen seien in den vergangenen Jahren an Corona gestorben, weltweit mehr als 100.000 nach Schätzungen der WHO. "Ich finde es unerträglich, dass durch Laubegast Leute rennen, die solche Zahlen leugnen", sagt er.
Die Leute, von denen Kraftzyk spricht, nennen sich selbst "Spaziergänger" und treffen sich seit einigen Wochen jeden Sonntag und Montag, um durch Laubegast zu laufen - aus Protest gegen die Corona-Maßnahmen. Doch die "Spaziergänger" bestimmen am Samstag nicht das Geschehen. Stattdessen haben sich am Kronstädter Platz knapp 200 Menschen versammelt. Motto: Laubegast ist demokratisch bunt.

Familien sind mit ihren Kindern gekommen, Journalisten mit Kameras. Auch Oberbürgermeister Dirk Hilbert (FDP) hört zu, als Tobias Kraftzyk spricht. Es treten weitere Redner auf. Später ist ein kurzer Zug bis zur Kreuzung Leubener Straße/Österreicher Straße geplant. Dort, wo sich sonst die "Spaziergänger" treffen, soll es eine besondere Aktion geben.
"Laubegast ist bunt"
Hinter dem Treffen steht eine Gruppe aus Politikern, Bürgerinitiativen und Vereinen wie "Laubegast ist bunt". Unterstützt werden sie von Annalena Schmidt und Lutz Hoffmann, die sich kurz vor Weihnachten zusammen gefunden hatten, um "Haltung zeigen" zu gründen. Eine Initiative, die innerhalb weniger Wochen mehrere Tausend Unterstützer fand - im Netz und auf der Straße.
Anfang Januar organisierten sie eine erste Aktion auf dem Neumarkt. Dort versammelten sich 3.500 Menschen, um Kerzen abzustellen und der Corona-Toten zu gedenken. Ende Januar folgte eine Kundgebung auf dem Schillerplatz. Bis dahin hatten in Dresden vor allem die Gegner der Corona-Politik demonstriert, nicht immer friedlich, oft begleitet oder angeführt von Rechtsextremen.
Auch dieses Wochenende vergeht nicht ohne "Spaziergang". Am Samstag startet eine Gruppe am Bushalt Otto-Schindler-Straße in Pillnitz. Schätzungsweise bis zu 200 Menschen laufen am Nachmittag über den Elberadweg bis zum Schillerplatz. Dabei kommt es kurz zu Verkehrsbehinderungen. Ein Privatmann hat die Veranstaltung angemeldet. Und in Laubegast werden sich am Sonntag wieder 500 Menschen zum Spaziergang treffen. Ohne Vorkommnisse, wie ein Polizeisprecher bestätigen wird.

Mit "Haltung zeigen" gibt es nun eine Plattform für Menschen, die sich das nicht gefallen lassen wollen. Die sich nicht damit abfinden wollen, dass sogenannte Querdenker oder Anhänger der rechtsextremen Kleinstpartei "Freien Sachsen" durch ihre Stadt marschieren. "Lasst uns ihnen etwas entgegensetzen!", schrieben die Veranstalter in dem Text, mit dem sie zur Aktion in Laubegast aufriefen.
Keine Trillerpfeifen, kein Gebrüll
Den Begriff der "Gegen-Demonstration" halten am Samstag jedoch viele für unpassend. Claus Dethleff zum Beispiel, Netzwerkkoordinator des Vereins "Laubegast ist bunt". Er ist komplett in Schwarz gekleidet, eine signalrote Maske bedeckt Mund und Nase. Ein paar Meter neben ihm steht ein Lautsprecher, aus dem leise Schlagermusik tönt. Dethleff sagt, dass sich die Versammlung am Kronstädter Platz nicht gegen die sogenannten Spaziergänger richte. Deshalb habe man auch den Samstag als Termin gewählt, nicht den Sonntag. Eine Demonstration für Demokratie und Vielfalt - die Formulierung gefällt Dethleff besser. Aber auf Nachfrage räumt auch er ein, dass die "Spaziergänge" der vergangenen Wochen der Anlass seien. "Viele sind davon genervt", sagt er. "Wir wollen der stillen Mehrheit die Gelegenheit geben, sich zu äußern."

Plötzlich fällt Dethleffs Blick auf den Fußweg. "Oh, da kommt die Gegenseite", sagt er. Drei Männer nähern sich dem Kronstädter Platz, einer guckt grimmig - sie gehen weiter. Wer die Männer waren, ob es sich tatsächlich um "die Gegenseite" handelte, ist unklar. Sicher ist, dass an diesem Tag niemand den Konflikt sucht. Kein Streit, kein Gebrüll, keine Pöbeleien. Es bleibt friedlich.
Für eine Minute steht die Kreuzung still
Bevor sich der Zug in Bewegung setzt, verteilen Ordner Farbbänder an die Teilnehmer. Die Bänder werden um Handgelenke gewickelt und an Jacken festgeknotet. Dann ziehen sie los. Während an den Sonntagen der Lärm von Trillerpfeifen durch die Straßen schrillt, sind die Demonstranten, die am Samstag "Haltung zeigen", auffällig leise. Auch die Schlagermusik ist jetzt ausgestellt. Langsam, fast zaghaft gehen die Demonstranten über die Österreicher Straße. Auf Schildern, die sie hochhalten, steht "Impfen statt Schimpfen" oder "Mit Maske und Respekt".

Nach wenigen Hundert Metern erreichen sie die Kreuzung. Die Polizei blockiert den Verkehr, und gegen den Uhrzeigersinn umringen knapp 200 Menschen den Platz, um eine Kette zu bilden. Jetzt kommen die Farbbänder zum Einsatz. Daran halten die Menschen einander fest, um direkten Kontakt (und damit Ansteckungen) zu vermeiden.
Es ist Samstag, 16.35 Uhr, und kurz steht das Leben auf der Kreuzung still. Eine Minute wird geschwiegen, dann ist Schluss. Applaus. Die Menge löst sich auf, es bilden sich kleine Gruppen, man verabschiedet sich. In Laubegast wurde "Haltung gezeigt."