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"Absolute Katastrophe": Hunderte Kinder in Dresden dürfen keine Schule besuchen

Seit Monaten warten hunderte geflüchtete Kinder in Dresden auf einen Schulplatz. Das verhindere nicht nur deren Integration, sondern auch die ihrer Eltern, kritisiert der Flüchtlingsrat.

Von Julia Vollmer
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Nicht alle Dresdner Kinder dürfen eine Schule besuchen. Hunderte Geflüchtete warten auf einen Platz.
Nicht alle Dresdner Kinder dürfen eine Schule besuchen. Hunderte Geflüchtete warten auf einen Platz. © SZ/Uwe Soeder

Dresden. Bildung ist ein Menschenrecht. So steht es in der Erklärung der Menschenrechte. Doch in Dresden gibt es Kinder, die aktuell keine Schule besuchen dürfen. Denn sie haben keinen Schulplatz bekommen.

Dabei handelt es sich um geflüchtete Mädchen und Jungen aus der Ukraine, aber auch aus Syrien, Afghanistan und vielen weiteren Ländern. Warum bekommen die Behörden das Problem nicht in den Griff?

Nur 40 Prozent der Kinder werden beschult

Bei der Frage muss differenziert werden, je nachdem, wo die Kinder und Jugendlichen in Dresden gerade untergebracht sind und aus welchem Land sie kommen. Rund 100 unbegleitete ausländische Minderjährige leben derzeit in den Inobhutnahme-Einrichtungen der Stadt, werden zum Beispiel im Kinder- und Jugendnotdienst betreut. Die meisten kommen aus Syrien und Afghanistan. Sie alle sind laut Jugendamt im schulpflichtigen Alter.

Fragt man die Stadt, wie viele der Kinder und Jugendlichen keinen Schulunterricht besuchen, kommt keine konkrete Antwort. Der Anteil der unbegleiteten Minderjährigen, die sich in einer Einrichtung befinden und beschult werden, liege in der Regel bei etwa 40 Prozent. Das heißt im Umkehrschluss: 60 Prozent sitzen nicht im Klassenzimmer.

Die Stadt erklärt das unter anderem mit langen Verfahrensdauern. Wenn klar sei, ob und wo die Kinder bleiben dürfen, melde sie ein Amtsvormund für die Schule an. Das jedoch dauere. In der Zwischenzeit dürfen die Betroffenen keinen Unterricht besuchen.

Das Jugendamt räumt ein ein, dass manche Kinder zwei Monate oder länger warten müssten. "Die Bearbeitungsdauer bis zum tatsächlichen Schulbesuch hängt von verschiedenen Faktoren ab und kann stark variieren. Die Zeit bis zum tatsächlichen Schulantritt kann bis zu acht Wochen und länger dauern." Zwischen August und Dezember ist rund 70 Kindern ein Schulplatz vermittelt worden.

Zumindest gibt es so etwas ähnliches wie Schule. Laut Jugendamt werden den Kindern und Jugendlichen Deutschkurse angeboten, in den Einrichtungen, aber auch über einen ehrenamtlichen Verein an der Volkshochschule. Darüber hinaus werden Freizeitangebote und soziale Kontakte mit deutschsprachigen Kindern und Jugendlichen im Stadtteil organisiert.

Ukrainische Kinder ohne Platz

Warten auf den Schulbesuch müssen nicht nur junge und unbegleitete Syrer und Afghanen, auch ukrainische Kinder sind betroffen. Stand Mitte November hatten 48 von ihnen noch keinen Schulplatz. Das betrifft Grundschüler und ältere Kinder und Jugendliche.

Die Gründe seien vielfältig, erklärt Petra Nikolov, Sprecherin des Landesamtes für Bildung und Schule. Einige Kinder und Jugendliche seien neu angemeldet worden, andere aus anderen Landkreisen oder Bundesländern nach Dresden gezogen. "Einzelne ukrainische Familien wünschen kurzfristig einen Wechsel von Freien Schulen an staatliche. Die Schulplatzzuweisung ist ein sehr dynamischer Prozess, da immer wieder neue Anträge eingehen, und ist noch nicht abgeschlossen", sagt sie. Wann allen Kindern ein Schulplatz vermittelt werden kann, lässt das Landesschulamt offen.

Länger als drei Monate ohne Schule

Auch in den Dresdner Erstaufnahmeeinrichtungen leben geflüchtete Mädchen und Jungen, die nicht beschult werden. Und das zum Teil seit Monaten. Zum Stand Ende Oktober lebten 208 Kinder im Alter zwischen 6 und 18 Jahren in den Unterkünften, 206 von ihnen bis zu drei Monaten und zwei Kinder länger als drei Monate, so Landesdirektionssprecherin Linda Simon Ende November.

"Im Regelfall wird eine kommunale Zuweisung bei Familien mit schulpflichtigen Kindern nach drei Monaten angestrebt. Während des Aufenthaltes besteht keine gesetzliche Schulpflicht, jedoch ist für alle Einrichtungen im Betreibervertrag das Lernangebot festgeschrieben", sagt Simon. Das Lernangebot sei niederschwellig und an die unterschiedlichen Bildungsstände der Kinder angepasst. Es umfasst die Module Grundlagen der Mathematik, Englisch, Bewegung und Kunst. Der Unterricht findet in zwei Altersklassen täglich von Montag bis Freitag mit je vier bis sechs Unterrichtsstunden statt.

Massive Kritik von der Integrationsbeauftragten

Kristina Winkler, Dresdens Integrationsbeauftragte, zeigt sich wütend über die dauerhafte Nicht-Beschulung der geflüchteten Kinder. Denn die Situation sei alles andere als neu. "Der frühzeitige Schulbesuch von Kindern ist ein elementarer Schritt zu deren Integration und Teilhabe. Integration und Teilhabe sind wichtig, damit Kinder gesund aufwachsen können", sagt sie. Wenn man fortlaufend Integration von den Zugewanderten fordere, dann müsse man dafür auch die Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen.

Eine schnellere Lösung fordert auch Olga Sperling, Geschäftsführerin des Ausländerrates: "Die Kinder benötigen dringend Schulplätze. Bis dahin brauchen wir in Dresden als Notlösung Auffanggruppen, wie es sie etwa im Kita-Bereich gibt." Soziale Träger und Migranten-Organisationen könnten dann mit ihren Angeboten verhindern, dass die Bildungslücken der Kinder noch größer werden. Die Wartezeit auf den Schulplatz wäre sinnvoll gefüllt und die Kinder hätten eine Tagesstruktur, die sie auf die Schule vorbereitet. Denn, so Sperling, fehlende Schulplätze seien ein Problem für die ganze Familie. Wessen Kinder zu Hause sind, der kann keine Sprachkurse besuchen, keinen Job finden.

So sieht das auch der Flüchtlingsrat und spricht von einer "absoluten Katastrophe". "Ein Alltag ohne Schule verhindert nicht nur ihre eigene Integration, sondern auch die der Eltern. Weil Kinder so schnell lernen, sind sie häufig die ersten. die in der Familie die Sprache beherrschen", so Dave Schmidtke.