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Ein Leben mit den Sauriern

Vor 40 Jahren stellte Franz Gruß ein selbstgebautes Urzeittier in seinen Garten in Kleinwelka. Nur er selbst ahnte wohl schon damals, was das für Folgen haben würde. Nicht nur für ihn.

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© Uwe Soeder

Von Jana Ulbrich (Text) und Uwe Soeder (Foto)

Rote Augen, gefährliche Statur und Blut an den scharfen Zähnen: So ein Tyrannosaurus ist beileibe kein Schmusetierchen. Der kann einem als Kind schon mal im Traum einkommen. Katrin Frindt steht unter dem Urvieh und schmunzelt. Die 52-Jährige kennt es, seit sie zwölf ist. Und sie kann sich noch genau erinnern an jenen Abend im März 1978, als ihr Vater der Familie am Abendbrottisch verkündet: „Ich baue einen Saurier.“ Aha, lachen die drei Mädchen am Tisch und finden das lustig. „Wir dachten ja an Kletterfiguren und nicht daran, dass uns bald ganz viele Leute beim Abendessen auf die Teller gucken werden“, erzählt Katrin, die mittlere der drei Töchter.

Bilder aus der Anfangszeit des Saurierparks

Beginn eines großartigen Lebenswerks: Im April 1978 entwarf und baute Franz Gruß in seinem Garten in Kleinwelka seinen ersten Saurier – den Stegosaurus – im Maßstab 1:2 aus einem Stahlgerüst und Beton.
Beginn eines großartigen Lebenswerks: Im April 1978 entwarf und baute Franz Gruß in seinem Garten in Kleinwelka seinen ersten Saurier – den Stegosaurus – im Maßstab 1:2 aus einem Stahlgerüst und Beton.
Familienfoto mit Saurier: Rosemarie, Katrin, Kirstin, Carina und Franz Gruß an Kirstins Jugendweihetag im Mai 1980. Der Tyrannosaurus war das zweite Werk des damals 49-Jährigen. Hunderte weitere folgen.
Familienfoto mit Saurier: Rosemarie, Katrin, Kirstin, Carina und Franz Gruß an Kirstins Jugendweihetag im Mai 1980. Der Tyrannosaurus war das zweite Werk des damals 49-Jährigen. Hunderte weitere folgen.
Originalgetreue Entwürfe am Reißbrett: Sein Wissen und die Vorlagen für seine Urzeittiere holte sich Franz Gruß aus Büchern. Noch heute stehen die gesammelten Urania-Universum-Bände aus DDR-Zeiten in der Schrankwand.
Originalgetreue Entwürfe am Reißbrett: Sein Wissen und die Vorlagen für seine Urzeittiere holte sich Franz Gruß aus Büchern. Noch heute stehen die gesammelten Urania-Universum-Bände aus DDR-Zeiten in der Schrankwand.

Ihre Mutter guckt schon an jenem Märzabend ein bisschen skeptisch. Sie kennt ja ihren Franz und weiß, dass er immer etwas zu bauen braucht, und dass er meistens durchsetzt, was er sich einbildet. Nur die Überschlagschaukel, die er seinen Töchtern in den Garten stellen will, kann sie verhindern. Zum Diskutieren hat Rosemarie Gruß an diesem Abend aber ohnehin keine Lust. Sie ist Krankenschwester und muss gleich zur Nachtschicht. Franz Gruß aber nimmt sich noch am selben Abend Papier und Bleistift und beginnt, seinen ersten Saurier zu entwerfen. Im April hat er ihn fertig, einen Stegosaurus aus Eisengeflecht und Beton – originalgetreu in halber Größe. Und genau so sieht er aus, wie er beschrieben ist in den Lexika und den populären Urania-Universum-Bänden, die es zu DDR-Zeiten meistens nur unterm Landentisch gibt. Der Stegosaurus steht auch heute noch gleich hinterm Gartentor in Großwelka. Nur mit dem Unterschied, dass nicht mehr nur drei halbwüchsige Mädchen drumherumspringen, sondern mittlerweile 60 000 Besucher im Jahr.

Als immer mehr Menschen am Gartentor von Familie Gruß stehenbleiben, als die ersten fragen, ob sie mal reinkommen dürfen, als manche erzählen, sie seien extra aus Dresden gekommen, da sagt Franz Gruß am Abendbrottisch: „Wartet mal ab, in ein paar Jahren werden ganze Busse hier angerollt kommen.“ Die Mädchen lachen wieder, aber Mutter Rosemarie holt tief Luft. Vielleicht hat sie in dem Moment ebenfalls schon geahnt, wie recht ihr Mann haben wird: Franz Gruß, der Maler aus Großwelka bei Bautzen, legt in seinem Garten den Grundstein für einen der schönsten Erlebnisparks Deutschlands. Weit über 200 000 Besucher im Jahr kommen heute in den Saurierpark Kleinwelka und tauchen mit allen Sinnen in die Urzeit ein. Franz Gruß hat das alles schon geahnt, noch viele Jahre vor „Jurassic Park“ und dem großen Dinofieber. Bis zu seinem Tod 2006 baut er 82 Saurier, fast 150 Urmenschen, an die 30 Säugetiere aus dem Känozoikum, über 20 Insekten, mehr als 250 andere Kleinlebewesen, Drachen Rehe, Alpakas und noch vieles mehr.

Für die Familie ist es schon Anfang der 1980er-Jahre endgültig vorbei mit der Ruhe. Immer mehr Besucher strömen in den kleinen Garten. Busse bringen Rentner und Schulklassen. „Wir konnten keinen Schritt mehr unbeobachtet machen“, erzählt Katrin Frindt. „Und nicht mal am Wochenende konnten wir ausschlafen, weil die Besucher schon früh zeitig am Tor rüttelten.“ Ganz besonders erinnert sie sich an den 7. Oktober 1985, zu DDR-Zeiten ein Feiertag. Es ist ein wunderschöner Herbsttag. Als die Familie am Nachmittag von einem Ausflug nach Hause kommt, ist es unmöglich, in den Garten, geschweige denn bis zur Haustür zu gelangen, so vollgestopft ist das Grundstück mit Besuchern. Also muss eine der Töchter über die Mauer klettern, auf einem Schleichweg zur Haustür gelangen und ein Fenster zur Rückseite hin öffnen, durch das der Rest der Familie von Nachbargrundstück aus klettern kann.

Franz Gruß baut und baut und nimmt den ganzen Garten in Beschlag. Aus dem kleinen Badebassin der Kinder wird ein großes Sauriergelege, aus den Erdbeerbeeten der Lagerplatz einer Urmenschengruppe, aus der Sitzecke die Stelle für eine urzeitliche Kampfszene. Als der eigene Garten zu klein wird, die Besucherzahlen aber immer größer, bietet die Gemeinde Kleinwelka ihm Platz im Park an. Später wird sich Franz Gruß mit der Gemeinde und den neuen Betreibern des Saurierparks überwerfen. Er trennt seinen eigenen Garten wieder vom Park, baut einen neuen Urzeitpark in Sebnitz. Heute gehört der Sauriergarten aber wieder als ein eigenständiger Teil zum Saurierpark. Durch ein Gartentor gelangen die Tausenden Saurierparkbesucher an den Ort, an dem alles seinen Anfang nahm, ohne noch einmal extra Eintritt zahlen zu müssen. Mehr als jeder vierte Saurierparkgast findet auch den Weg zu Familie Gruß.

Katrin Frindt schließt den Kiosk auf. Der Sauriergarten ist heute ihre Existenz. Er ist die Existenz der ganzen Familie. Und er ist ihr Vermächtnis. Längst hat Rosemarie Gruß ihre Arbeit als Krankenschwester aufgegeben und den Betrieb des Urzeitgartens als Gewerbe angemeldet. Es ist ihr schwergefallen. Das sieht man ihr an, wenn sie darüber spricht. Sie hat ihren Beruf geliebt. Aber eben auch ihren Mann, von dem sie ja weiß, dass er durchsetzt, was er sich einbildet. Die Töchter Katrin und Carina arbeiten hier, auch der Mann der ältesten Tochter Kirstin und Katharina, Katrin Frindts Tochter, die in das Leben mit Sauriern buchstäblich hineingewachsen ist. „Wenn ich früher hier Führungen gemacht habe, da saß sie mit im Sportwagen“, erzählt die Mutter. Es ist noch angenehm kühl an diesem Morgen. Katrin Frindt harkt noch einmal die Wege. Um neun öffnet drüben der Saurierpark, gegen zehn kommen erfahrungsgemäß die ersten Besucher im Ur-Garten an. Katrin Frindt blickt hinauf in die riesige Krone des Mammutbaums, die hoch in den Himmel gewachsen ist. Ihr Vater hat den Baum 1964 gepflanzt. Heute würden wohl vier Mann nicht reichen, um den stattlichen Stamm zu umfassen. „Es ist ein schweres Erbe, das der Vater uns hinterlassen hat“, sagt die 52-Jährige, „aber ist es nicht auch ein ganz Besonderes?“

Der Rücken vom Stegosaurus könnte mal wieder frische Farbe vertragen. Katrin Frindt wird das dann gleich ihrem Schwager sagen. Der ist für die Renovierungsarbeiten an den Skulpturen zuständig. Es ist viel zu tun hier in Großwelka und in Sebnitz. Aber es ja heute auch alles viel einfacher. Wenn sich Katrin nur daran erinnert, wie mühselig es zu DDR-Zeiten war, überhaupt an Material für die Plastiken zu kommen. Sie sieht es noch vor sich, als wäre es gestern, wie sie mit dem Moped auf den auf den Bahnhof nach Neschwitz fahren, weil gerade ein Waggon mit Zement angekommen ist. Wie sie den Zement in Säcke schaufeln. Wie sie das Moped auf dem Rückweg schieben müssen, weil es streikt. Sie sieht auch noch die strengen Blicke ihrer Mutter, wenn der Vater sich für das Eisengerippe mal wieder einen Kochtopf aus dem Küchenschrank stibitzt, weil gerade nichts Besseres da ist.

Katrin Frindt räumt kleine Plastikdinos in die Auslage vom Kiosk. Gut, dass es heute so viel Klimbim gibt, der sich nebenbei noch verkaufen lässt. Dann bindet sie sich eine saubere Schürze um. Sie übernimmt heute den Eisverkauf. Der Kiosk und der Eisstand sind ein wichtiges Standbein im Familienunternehmen.

Die ersten Besucher sind da. Eine Frau, Ende 50, kommt mit ihren Enkeln und will wissen, ob es die Höhle mit den Urmenschen noch gibt und die alten Gästebücher. Natürlich gibt es die Höhle noch und auch die Gästebücher, mehr als 200 Stück, fein geordnet im Regal. Wenn sie ein paar Minuten wartet, sagt Katrin Frindt, dann könnte sie ihr die Gästebücher zeigen. Ob sie denn noch weiß, wann sie hier war? Mehrmals, sagt die Besucherin. Der Sauriergarten sei auch ein Teil ihrer Kindheit gewesen. Und jetzt will sie das alles ihren Enkeln zeigen. Vielleicht findet sie ja auch einen ihrer alten Einträge. Katrin Frindt lächelt. Wie würde ihr Vater sich wohl freuen, wenn er das jetzt hören könnte.