Stefan Becker
Ein fröhlicher Name. Ein niedliches Gesicht. Ein tiefer Schmerz. Bis heute verkörpert der Tod von Anne Frank das größte Verbrechen der Menschheit – den Holocaust. Doch je monströser die Tat, so scheint es, desto lauter die Stimmen der Zweifler und Leugner, der Relativierer und Beschwichtiger: 71 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, 71 Jahre nach der Befreiung der wenigen Überlebenden aus den Konzentrationslagern müsse doch mal Schluss sein mit den ganzen Befindlichkeiten rund um Schuld und Sühne.
Die Antwort darauf gibt eine Schlange von Menschen, die an diesem Mittwoch der hochsommerlichen Hitze von Amsterdam trotzt und Schutz sucht im Schatten der Backsteinbauten rund um die Prinsengracht 263–267. Dort versteckte sich die Familie von Anne Frank knapp zwei Jahre vor den judenjagenden Nazis und deren Häschern; dort nimmt Hannah Strewe am Morgen ihre erste Gruppe in Empfang: die Abschlussklasse einer Mädchenrealschule aus Waldsassen in der Oberpfalz.
Nach etwas Plauderei rund um die Reise stellt Hannah Strewe ganz beiläufig die Masterfrage: „Hat jemand von euch das Tagebuch gelesen?“ Die meisten der vor ihr sitzenden jungen Damen schütteln den Kopf, wobei große Sonnenbrillen in den Haaren den Sitz der Frisuren garantieren. „Aber wir haben den Film gesehen“, wirft eine der Schülerinnen ein, und so besteht auf Anhieb eine gemeinsame Basis für den folgenden Unterricht.
Denn bevor die Gäste das einstige Versteck der Familie über knarrende Treppenstufen leichten Schrittes und schweren Herzens betreten, erwartet sie eine kleine Geschichtsstunde der etwas anderen Art. So wünscht es das Bildungsprogramm des Hauses. „Wir wollen den Besuchern entweder in Erinnerung rufen oder zumindest ein Gefühl dafür vermitteln, welcher Willkür und Grausamkeit die Verfolgten unter dem Naziregime ausgesetzt waren“, sagt Ayellet Grassiani. Sie widmet sich internationalen Besuchergruppen im Anne-Frank-Haus und kümmerte sich von der ersten Minute an um die junge Frau aus Burkau.
Geschichte und Geschichten im Anne-Frank-Haus
„Anfangs kamen mir immer die Tränen, wenn ich das Bild zeigte von Anne mit ihren beiden besten Freundinnen und dann die Geschichte erzählte vom Wiedersehen der Mädchen im KZ Bergen-Belsen“, erzählt Hannah Strewe. Nach dem Abi in Bischofswerda und vor dem Studium in der großen Stadt entschied sich die 18-Jährige für ein Jahr im internationalen Jugend-Freiwilligendienst. Ursprünglich wollte sie mit Flüchtlingen arbeiten und ahnte Anfang 2015 natürlich auch nicht, dass schon bald ganz viele Menschen in Sachsen eine neue Heimat suchen und finden sollten. Wenn auch mit Hindernissen.
Das seien genau die Parallelen, die ihre Arbeit im Museum so spannend machen, erzählte die in Schwarz gekleidete junge Frau in einer Pause. Schwarze T-Shirts und schwarze Blazer kleiden das Personal, verziert mit der weißen Stickerei „Anne Frank Huis“. „Als Europa und Amerika seine Grenzen schloss für die Verfolgten des Nationalsozialismus, saßen viele Menschen in der Falle. So auch die von Frankfurt nach Amsterdam geflüchtete Familie Frank. Acht Jahre wähnte sie sich in Holland in Sicherheit, dann musste sie untertauchen.“
Während die Schulklasse aus Bayern durch die engen und leeren Räume des Verstecks im legendären Hinterhaus schreitet, räumt die Referentin im Schulungsraum alle ihre Relikte aus der düsteren Zeit wieder an ihren Platz. Wie das Fläschchen, auf dessen Etikett „Opekta“ steht. Nach dem Fortgang in die Niederlande musste Anne Franks Vater Otto von vorn anfangen: ab 1934 machte der gelernte Banker in Marmelade. Er leitete die Firmenvertretung des gerade boomenden deutschen Geliermittelherstellers. Nach und nach holte er erst seine Frau und dann die beiden Töchter Margot und Anne nach Amsterdam.
Die Wahl für die Emigration fiel auf Holland, weil es im Ersten Weltkrieg neutral geblieben war und diesen Status in einem eventuellen neuen europäischen Konflikt beibehalten wollte. Die Hoffnung starb 1940, als die Wehrmacht einmarschierte und das Land besetzte. Ein Jahr später plante Otto Frank bereits das Versteck im Hinterhaus seiner Firma. Ein großes Bild im Schulungsraum zeigt einen Querschnitt der miteinander verbundenen Häuser der Prinsengracht 263. Hannah Strewe stellt es wieder an seinen Platz für ihre nächste Gruppe.
Die kommt diesmal aus Kiel, mit weniger Sonnenbrillen, dafür aber mit ein paar Jungs und Dreadlocks. „Was fällt euch beim Namen Anne Frank spontan ein?“, fragt sie in die Runde der zwanzig Schüler und die Antworten kommen prompt: Das Tagebuch, das Versteck, die Nazis, der Holocaust, natürlich Kitty. Auch sie haben den neuen Kinofilm gesehen, lachten mit dem vorwitzigen Teenager über dessen freche wie geistreiche Kommentare, litten mit bei den vielen Konflikten in der Enge des Verstecks und weinten, als das Tagebuch längst geendet hatte und die Tortur in den KZs begann.
An diesem sonnigen Tag aber kullern keine Tränen, denn die Vortragende kennt die Kniffe, wie sie ihren Zuhörern den Trost und die Zuversicht vermittelt, für die das Museum auch stehen soll. 1960 habe es am Originalschauplatz eröffnet, sagt Kommunikationschefin Annemarie Bekker, und die Besucherzahl liege jährlich bei rund 1,3 Millionen Gästen. Tendenz steigend.
Eine Bürgerinitiative erstritt damals den Erhalt des Hauses. Unterstützt wurde sie von der bis heute aktiven Anne-Frank-Stiftung, gegründet von Otto Frank, der die Tagebücher seiner Tochter schon 1947 veröffentlichen ließ – als Dokumente der Hoffnung. Die Tragik seines Schicksals bestand darin, als Einziger der Familie das Grauen zu überleben. Das Tagebuch retteten seine Mitarbeiterinnen und Helfer. Ein Exemplar mit dem markanten rot-weiß-karierten Einband liegt auch in der Vitrine des Schulungsraums.
Hannah Strewe beweist viel Stärke beim Erzählen der Geschichte, die nach fast einem Jahr auch ein Teil von ihr geworden ist. Unter der Obhut der Organisation „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ begann sie ihre Arbeit in Amsterdam. Bis September radelt sie noch jeden Morgen vom Studentenwohnheim zum Museum. Wenn sie ihren Job an die Nachfolgerin übergibt, hat sie rund 130 Gruppen betreut, oft die Räume des Verstecks betreten und am Ende der Ausstellung immer wieder das Video mit der Zeitzeugin Hanneli Goslar geschaut.
Ihre Worte sind sehr bewegend: Sie war zusammen mit Sanne die beste Freundin von Anne und traf sie dann in Bergen-Belsen wieder“, erzählt die junge Frau, die gerne Grundschullehrerin werden möchte. Und noch eine zweite Zeitzeugin habe sie sehr beeindruckt, allerdings im persönlichen Gespräch: Mirjam Ohringer. Von der Begegnung erzählt sie auch den fast gleichaltrigen Gästen aus Kiel. Denn die vor Kurzem verstorbene Holländerin habe krasse Sachen gemacht – als Jüdin und Kommunistin im Widerstand gekämpft. Also alles das, was Hitler am meisten hasste. Voll krass.
„Für die Schüler klingt die Sprache vertraut, darum möchten wir ja auch, dass junge Menschen die Geschichte erzählen“, beschreibt Mentorin Grassiani den Bildungsauftrag des Hauses. Hannah Strewe erzählt drauflos, und Wort für Wort folgt ihr die Gruppe. Und die Chance besteht, dass der eine oder andere das Tagebuch der Anne Frank vielleicht doch noch mal liest – Wort für Wort. Ob sich Hannah Strewe dagegen den jüngsten Film anschauen wird, das scheint ziemlich ungewiss. „Durch die Arbeit hier habe ich jetzt immer ein ganz eigenes Gesicht von Anne Frank vor Augen“, sagt sie und blinzelt beim Aufschließen des Fahrrades in die Sonne.