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Ein zweites Zuhause

Das Biotopia bereitet Jugendliche aus schwierigem Umfeld aufs Erwachsenenleben vor. Eine Aufgabe mit vielen Hürden.

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© Sebastian Schultz

Von Stefan Lehmann

Riesa. Mit 16 ist bei Thomas schon einiges schief gelaufen. Mit der psychisch kranken Mutter hatte er sich verkracht, danach schon in sieben verschiedene Heimen gewohnt. Ausgehalten hatte er nirgendwo sehr lange, oft flog er raus. Zuletzt lebte er bei Freunden. Dann vermittelte ihn das Jugendamt ans Biotopia in Riesa.

„Zu uns kommen oft die klassischen Straßenkinder, Jugendliche, die keiner wollte“, erzählt Susanne Altmann. Sie leitet die Jugendhilfeeinrichtung an der Kreuzstraße in Weida. Das Ziel: Jugendliche aus schwierigem Umfeld auf ein selbstständiges Leben vorzubereiten. „Einen 16-Jährigen kann man nur noch bedingt ändern“, erklärt Altmann. Vielmehr gehe es darum, die jungen Menschen fit zu machen für das Leben „draußen“. Denn vielen falle mit 18 Jahren regelrecht die Decke auf den Kopf, wenn sie auf einmal auf eigenen Beinen stehen müssen, ihr altes Umfeld und die Betreuer weg sind. Deshalb erinnert das Biotopia eher an ein Mietshaus als an ein Kinderheim. Jeder Bewohner bekommt eine eigene Wohnung mit Küche. Das wichtigste Mobiliar ist vorhanden, wer möchte, der kann auch Möbel mitbringen.

Auch Thomas, der eigentlich anders heißt, konnte nach einem Vorgespräch zum ersten Mal seine eigenen vier Wände beziehen. Für viele Bewohner ist das eine völlig neue Situation, sagt Susanne Altmann. „Es ist anders, als sie es aus dem Heim kennen.“ Zwar gibt es auch im Biotopia noch eine Betreuung; zum Beispiel achten die fünf Mitarbeiter darauf, dass die Jugendlichen pünktlich aufstehen und zur Schule gehen. Ansonsten sollen sie aber zu einer gewissen Selbstständigkeit erzogen werden. Essen müssen sie selbst einkaufen und kochen, es gibt eine Mietkaution, einen Putzplan für den Hausflur, eine Art Nebenkostenabrechnung. Wenn sich ein Teenager mal aussperrt, dann wird eine kleine Gebühr für den Schlüsseldienst vom Taschengeld abgezogen. Umgekehrt gibt es ein Punktesystem für vorbildliches Verhalten, bei dem sich die Bewohner etwa Gutscheine erarbeiten können. Die Mitarbeiter leisteten vor allem Beziehungsarbeit, sagt Susanne Altmann: „Einfach mal da sein, quatschen, vielleicht mal eine Runde Billard spielen.“ Oder die Jugendlichen eben in Ruhe lassen – schließlich sind sie oft im Biotopia gelandet, weil sie mit den Strukturen im Heim nicht klarkamen.

Das Projekt geht auf die Städtepartnerschaft zwischen Riesa und Mannheim zurück. „Dort gab es den Biotopia Mannheim e.V.“, erzählt Susanne Altmann. 1995 seien dann auch in Riesa mehrere Projekte für arbeitslose Jugendliche ins Leben gerufen worden. „Da wurden zum Beispiel Wälder beräumt – viele Projekte hatten einen ökologischen Charakter.“ So erklärt sich auch der Name. Schließlich entstanden in der ehemaligen Heidebergschule Wohnungen für Jugendliche. Man wollte weg vom klassischen Konzept eines Kinderheims. „Damals waren wir schon Exoten“, erinnert sich Altmann. Mit dem Konzept habe man sich erst einmal behaupten müssen. Die Jugendämter befürworteten engere Strukturen. Hinzu kamen ganz banale Probleme: Die Belegung war zu gering. „Die fünf Mitarbeiter sind ja trotzdem da und müssen bezahlt werden“, sagt Daniel Skupin vom Psychosozialen Trägerverein Sachsen (PTV), der Mitte 2017 die Gesellschafteranteile am Projekt übernommen hat. Mittlerweile habe sich die Belegung stabilisiert.

Weniger Ärger mit den Nachbarn

Auch mit den Nachbarn klappt’s inzwischen besser, sagt Susanne Altmann. Die Vorbehalte seien zeitweise groß gewesen, Polizei und Krankenwagen hätten öfter vor dem Haus gestanden. „Wir mussten viel Öffentlichkeitsarbeit leisten.“ Nach mehreren Festen, zu denen die Nachbarschaft eingeladen war, funktioniert es aktuell ganz gut. Auch, weil die derzeitigen zehn Bewohner in der Hinsicht keine Probleme machen. Was seit der Gründung etwa gleich geblieben ist, das ist der soziale Hintergrund der Jugendlichen. Allen gemein seien Beziehungsbrüche, fehlende Verbundenheit mit dem Elternhaus, Schulschwänzerei und häufig auch ein großes Misstrauen, überhaupt neue Beziehungen einzugehen, sagt Susanne Altmann. Anders ist, dass heute auch minderjährige Asylbewerber im Biotopia leben, derzeit sind es acht. „Die sind pflegeleichter, weil sie einfach dankbar sind und auch wollen.“ Trotzdem wäre ihr ein Verhältnis von 1:1 zwischen Deutschen und Asylbewerbern lieber, schon, weil das die Integration erleichtere.

Nicht jeder Bewohner schafft es am Ende. „Manchmal gehört Scheitern dazu“, sagt Daniel Skupin. Auch der 16-jährige Thomas, von dem am Anfang die Rede war, musste das Haus wieder verlassen, nachdem er sich zu oft nicht an die Regeln gehalten hatte. „Es gibt bei uns drei Verwarnungen“, sagt Susanne Altmann. Danach ist Schluss, Sonderbehandlungen dürfe es nicht geben. Rückschläge müssen Altmann und ihre Kollegen immer wieder verdauen – und brennen trotzdem für ihre Arbeit: „Für mich ist das mehr als ein Job.“ Und es gibt ja auch die andere Seite, etwa, wenn sich ehemalige Bewohner melden. „Die sagen häufig: Etwas Besseres als das Biotopia hätte mir nicht passieren können.“