Partner im RedaktionsNetzwerk Deutschland
Merken

Eine Frage von Millisekunden

Ohne sie läuft nichts. Die Zeitnehmer haben bei Olympia eine der wichtigsten Aufgaben, meint ihr Chef aus der Schweiz.

Teilen
Folgen
NEU!
© Reuters

Von Tino Meyer, Rio de Janeiro

Die Kamera liefert 10 000 Bilder pro Sekunde, dabei hätte doch ein einziges gereicht – für die Archive. Dass Usain Bolt das Wettrennen der schnellsten Männer der Welt in Rio gewinnt, ist sogar mit bloßem Auge zu sehen. 0,05 Sekunden liegt der Jamaikaner vor seinem größten Widersacher, dem US-Amerikaner Justin Gatlin. Klingt nach einem knappen Vorsprung, ist im Sprint aber eine kleine Ewigkeit – und für Alain Zobrist noch viel mehr.

Alain Zobrist, Chef der Zeitnehmer bei Olympia
Alain Zobrist, Chef der Zeitnehmer bei Olympia © dpa

Der 33-Jährige ist der Zeitchef der Spiele, arbeitet für den Uhren-Hersteller Omega – und rechnet in Millisekunden. „Wir dürfen keine Fehler machen. Die Athleten trainieren ihr Leben lang für die Olympischen Spiele, für ihre zehn Sekunden oder 42 Kilometer. Da verdienen sie jemanden, dem sie vertrauen können“, sagt Zobrist, ein drahtiger, wortgewandter Mann.

450 Tonnen Material hat seine Firma nach Rio bringen lassen. Dazu gehören unter anderem 200 Kilometer Kabel, Fotofinishkameras, Startpistolen, Anzeigetafeln, Startblöcke mit Fußsensoren – und 21 Glocken aus den Schweizer Bergen zum Läuten der Schlussrunde im Leichtathletikstadion und bei den Bahnradprofis sowie leistungsstarke Batterien. Für den Fall der Fälle: plötzlicher Stromausfall, zum Beispiel im 100-Meter-Finale. „Wir brauchen diesen Aufwand, um in all den verschiedenen Sportarten unsere Leistungen zu erbringen“, erklärt Zobrist und verdeutlicht: „Wir haben 28 Sportstätten. Das ist für uns so, als würde man 28 Weltmeisterschaften in zwei Wochen durchführen.“

Seit Los Angeles 1932 ist Omega für die Zeitnahme bei Olympia verantwortlich, nur ist damals alles anders gewesen. „Bei unseren ersten Spielen hatten wir einen Mann vor Ort mit 32 Stoppuhren“, sagt Zobrist. Drei Wochen vor Beginn der Spiele sei der ins Schiff gestiegen, um dann bei allen Wettkämpfen die Zeit zu stoppen – teilweise mithilfe des Kampfgerichts.

Bei den vorangegangenen Spielen hatte noch jeder Teilnehmer seine eigene Stoppuhr, erzählt Zobrist. „Da wollte das IOC einen präzisen Zeitnehmer, der auf die Zehntelsekunde genau misst mit einheitlichen Geräten – und die konnten wir zur Verfügung stellen.“ So hat alles angefangen. Inzwischen ist aus dem Ein-Mann-Projekt eine Mammutaufgabe geworden.

Insgesamt 480 Zeitnehmer sind in Rio im Einsatz. Und diese Aufgabe, findet Zobrist, verlangt mehr als auf die Uhr zu sehen. „Sie brauchen einen technischen Hintergrund, aber das Wichtigste ist die Leidenschaft für den Sport und die Liebe zum Detail. Dann müssen sie natürlich ihr Equipment kennen und das Regelwerk“, erklärt er und nennt Konzentrationsfähigkeit als weitere wichtige Voraussetzung: „Das sind hier lange Tage. Und einen Fehler darf er nicht machen.“

Darauf legt Zobrist, der auch ein pünktlicher, korrekter Mann ist, großen Wert. „Zeit wird von jedem anders empfunden, gelebt, interpretiert. Aber sie bleibt doch für jeden gleich. Eine Stunde bleibt immer eine Stunde, eine Minute immer eine Minute, eine Sekunde immer Sekunde“, meint er. Verändert habe sich lediglich das Verständnis, was in dieser Zeit passiert. Beim Schwimmen – der einzigen Sportart, bei der die Sportler durch den Anschlag ihre Zeit selbst stoppen – könne in 100 Millisekunden beispielsweise unglaublich viel passieren. „Oder bei den Sprintern: Da misst unser Sensor den Druck, den der Läufer mit seinem Fuß beim Abdrücken vom Startblock ausübt, 4 000 mal pro Sekunde. Unsere Fotofinishkamera macht 10 000 Bilder pro Sekunde“, betont Zobrist.

Die Geschichte von Armin Hary passt bei so viel Präzision natürlich nicht ins Bild. Bei den Spielen in Rom gewann der Saarländer die 100 Meter als erster Mensch der Welt in exakt 10,0 Sekunden. Doch der Zeitnehmer habe ihm hinterher gesagt, dass eine Neun vor dem Komma stand. Zobrist entgegnet knapp: „Vielleicht war das die inoffizielle Zeit. Wir werden nie erfahren, ob es eine Legende war oder mehr.“

Ausführlicher erzählt der Schweizer dagegen seine Lieblingsanekdote, die von Nadia Comaneci handelt. Dreimal erhielt die rumänische Ausnahmeturnerin für eine Übung die Wertung 10,0. Oder besser: sollte sie erhalten. „Wir hatten aber nur eine Anzeige für eine Stelle vor dem Komma mit. Da stand dann also 1,0. Wir hatten es einfach nicht für möglich gehalten, dass jemand eine 10,0 schafft. Aber daraus lernt man – beim nächsten Mal hatten wir Platz für eine Ziffer mehr“, sagt Zobrist.

Die komplizierteste Sportart, meint er, sei ohnehin die Leichtathletik. „Da passiert so viel gleichzeitig. Da die Daten zu koordinieren, ist sehr anspruchsvoll.“ Auch in der Nacht zum Freitag wieder, wobei er da sicher eine Sorge weniger hatte. Nach dem Halbfinal-Aus von Gatlin dürfte Bolts Überlegenheit über 200 Meter so deutlich sein, dass sich die Zeitnehmer getrost auf die Läufer dahinter konzentrieren können.