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Eine Frau in der Metallbranche

Vera Siche leitet die Federnfabrik Wilhelm Hesse in Neugersdorf. Von heute auf morgen hat sie sich dazu entschieden.

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© Rafael Sampedro

Von Gabriela Lachnit

Das Jahr 2013 war kein gutes für Vera Siche. Kurz hintereinander hat sie sowohl ihren Mann als auch ihren einzigen Sohn verloren. Als ihr Mann im Alter von 57 Jahren starb, war sie Erbin einer Firma mit mehr als 30 Mitarbeitern. Zunächst war geplant, dass der Sohn die Firma übernimmt. Nur wenige Wochen nach dem Tod des Ehemannes verunglückte der junge Mann tödlich. Vera Siche musste innerhalb kurzer Zeit zwei schwere Schicksalsschläge verkraften. Und sie musste entscheiden, was aus der Firma, der Federnfabrik Wilhelm Hesse in Neugersdorf, werden sollte. Durch den frühen und plötzlichen Tod ihres Mannes war die Firmennachfolge nicht geregelt. Die studierte Bauingenieurin, die auch heute noch in der Bauaufsicht des Landratsamtes in Zittau arbeitet, hatte sich ein Herz gefasst und entschieden, die Firma nicht zu schließen, sondern selbst weiterzuführen. „Vielleicht war das am Anfang etwas blauäugig“, sagt die 60-Jährige aus heutiger Sicht. „Aber ich sah damals wie heute eine lohnende Aufgabe darin, den Mitarbeitern der Firma und ihren Familien weiter Lohn und Brot zu sichern. Die Menschen waren es wert, das zu versuchen“, resümiert Frau Siche.

Sie hat sich intensiv mit der Firma beschäftigt. Ihrem Arbeitgeber, dem Landratsamt, ist sie sehr dankbar, dass sie dafür bestimmte Freiheiten nutzen konnte, zum Beispiel bei anstehenden Problemen in der Firma auch einmal kurzfristig Urlaub zu nehmen. Die Sparkasse habe zu ihr gehalten, obwohl zunächst alle Kredite fällig gestellt worden sind, erklärt sie. Sie hat sich Hilfe gesucht, bat Unternehmer in Neugersdorf und der Region um Rat, fand einen guten Steuerberater und konnte auf die Unterstützung vieler Freunde zählen.

Vera Siche hat sich regelrecht reingekniet in ihre neue Aufgabe als Firmenchefin. Als Bauingenieurin war sie es gewöhnt, mit Männern umzugehen, genügend Selbstbewusstsein hat sie dafür. Ihre ruhige, bestimmte Art kommt an. Sie ist sich nicht zu fein, auch einmal um eine Erklärung zu bitten, wenn sie etwas Neues nicht verstanden hat. „Ich lerne gerne dazu“, sagt die 60-Jährige. Sie mag die Herausforderung. „Sich täglich beweisen müssen, Neues lernen, das hält jung und macht Spaß.“ Vera Siche betont, sie sei ein Mensch mit Technik-Interesse. Sie ist noch immer jedes Mal fasziniert, wenn sie die Werkhalle betritt und sieht, was die Maschinen und Automaten für Teile „hervorbringen“ und was in Handarbeit zum Beispiel aus einem dünnen Draht geformt werden kann.

Von Anfang an war sie bestrebt, die anfallenden Aufgaben auf viele Schultern zu verteilen. In der Firma traf sie dafür kompetente und zuverlässige Mitarbeiter an, denen sie in ihrem jeweiligen Bereich viel Verantwortung übertragen konnte. Das Vertrauen in die Mitarbeiter war und ist groß, betont sie. So hat sich Vera Siche zum Beispiel einen Geschäftsführer an ihre Seite geholt, es gibt einen Produktionsleiter und einen kaufmännischen Leiter. Und sie hat junge Leute in der Firma eingestellt. Die ersten drei Jahre waren kompliziert, erklärt Frau Siche, die von sich sagt, dass sie vor allem das Wirtschaftliche in der Firma im Blick habe. Für die Technik und die Produktion habe sie perfekte Mitarbeiter.

Dass die Federnfabrik auf einem guten Weg ist, verdankt die Betriebsleiterin vor allem der guten Zusammenarbeit in der Firma, der Unterstützung von außen, ihrem eigenen Geschick und dem Mut zum Wagnis. Denn ihr Hauptjob ist der beim Landratsamt in der Bauaufsicht. Firmenchefin ist sozusagen ihr Nebenjob. „Ich kann mich organisieren, setze Prioritäten und kann Arbeiten delegieren, weil ich den Mitarbeitern in der Firma vertraue“, schildert Frau Siche.

In diesem Jahr ist die Umstrukturierung der Firma abgeschlossen. Im Zusammenwirken mit allen Verantwortlichen im Betrieb ist die Produktion zu ihren Ursprüngen zurückgekehrt. Möglich machen das eigene Konstrukteure und ein eigener Werkzeugbau. Für jedes Produkt können für die Maschinen und Automaten die entsprechenden Vorrichtungen für die Herstellung der Federn konstruiert und gefertigt werden. Damit kann das Unternehmen flexibel auf Kundenwünsche reagieren.

Die Firma Wilhelm Hesse stellt technische Federn für unterschiedlichste Verwendungen her. Federn aus Neugersdorf sind zum Beispiel in Staubsaugern, in Autos, Lkw und Turbinen zu finden. Sie wurden aber auch schon von Forschungseinrichtungen bestellt. Die Produktionsmenge reicht dabei von Miniserien mit 100 oder 200 Stück bis hin zu Großserien von etwa 50 000 oder sogar 100 000 Stück. „Wenn dann ein Nachbar fragt, ob die Kollegen mit einer neuen Feder die gebrochene an seinem Gartengerät ersetzen könnten, machen wir auch das, vorausgesetzt, wir haben den entsprechenden Draht dafür da“, erzählt die Chefin.

Sie freut sich, dass viele Kunden der Firma Hesse die Treue gehalten haben. „Ich konnte sie überzeugen, dass es weitergeht“, sagt sie stolz. Überzeugen, das sei ohnehin ihre Philosophie, sagt die Unternehmerin. Für sie sei beispielsweise ein Glas niemals halb leer, sondern immer halb voll. Von einigen Kunden habe man sich getrennt, dafür viele neue hinzugewonnen. Es habe sich herumgesprochen in der Branche, dass aus der Neugersdorfer Federnfabrik Qualitätsware zum vereinbarten Liefertermin kommt. So ist es kein Wunder, dass etliche Betriebe, die vormals in China produzieren ließen, jetzt in Neugersdorf bestellen. Federn aus der Oberlandstadt gehen an Kunden in aller Welt, darunter in Österreich, Polen, Tschechien, Portugal, Thailand und in der Schweiz. Und natürlich an Abnehmer in Deutschland.

Die Unternehmerin plant, die Kontakte nach Polen und Tschechien auszubauen. Den Anfang dafür haben Zulieferungen aus Polen gemacht. Eine Firma aus Wroclaw liefert speziellen Draht, um Federn herzustellen. „Mit dieser Zusammenarbeit sind wir sehr zufrieden“, betont die Firmenleiterin. „Wir wollen das erweitern, denn Polen und Tschechien sind gute Märkte.“

An diesem Freitag jedoch wird in der Federnfabrik Wilhelm Hesse erst einmal gefeiert. Das 1887 vom Urgroßvater Wilhelm Hesse gegründete Unternehmen begeht sein 130-jähriges Bestehen mit einem Tag der offenen Tür. Dazu sind alle Neugierigen eingeladen. Sie können den Mitarbeitern in der Werkhalle über die Schultern schauen und sehen, wie Federn entstehen. Eine Überraschung haben die Kollegen für die Gäste vorbereitet – einen gefederten Notizständer. Zur Feier sind zudem ehemalige Mitarbeiter, die jetzt im Ruhestand sind, eingeladen sowie zahlreiche Kunden. Vera Siche hofft, dass viele Menschen aus Neugersdorf und dem Umland kommen. Nicht nur, weil es noch offene Arbeits- und Ausbildungsplätze gibt, sondern vor allem, um das Unternehmen kennenzulernen.

Tag der offenen Tür in der Federnfabrik Wilhelm Hesse in Neugersdorf, Ringstraße 6 (Gewerbegebiet Kamerun) am 24. November, 13 bis 15 Uhr