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Einsame Spitze

Sachsen führt den Weltmarkt an – bei den Schultüten. Fast jede zweite kommt aus einer Kleinstadt im Erzgebirge. Und das soll noch nicht das Ende sein.

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Von Christian Dittmar

Ein paar Braunbären vor rot-blauem Hintergrund waren auf Ursula Nestlers Schultüte abgebildet, als die heutige Geschäftsführerin von Nestler im Jahr 1957 eingeschult wurde. Bei ihrer Tochter Bettina war es 34 Jahre später ein Max-und Moritz-Motiv. Wenn am 20. August ungefähr 32.000 Kinder in Sachsen ihren großen Tag haben werden, dürften ihre Eltern zuvor allein beim Marktführer Nestler eine schwierige Wahl gehabt haben: Zwischen über 50 Motiven von Spiderman bis Cinderella, zwischen Verschlüssen von Tüll bis Organza und zwischen einer runden, einer sechs- oder sogar zwölfeckigen Form. Keine Frage, die Schultüte ist im Kommen.

Knapp fünf Millionen werden in diesem Sommer von ihnen in ganz Deutschland verkauft. Die Hälfte davon kommt aus Sachsen, aus einem Schultütencluster, das sich zwischen Zwickau und Chemnitz erstreckt. Im vogtländischen Lichtentanne sitzt der aufstrebende Konkurrent, die Roth Edition GmbH, die pro Jahr 600.000 Schultüten verkauft. Nur 60 Kilometer von Lichtentanne entfernt produziert im erzgebirgischen Ehrenfriedersdorf der Platzhirsch: Nestler Feinkartonagen GmbH.

Mit 1,8Millionen verkauften Schultüten im Jahr 2010 ist der Mittelständler nicht nur führend in Deutschland, sondern – da sich die Tradition der Zuckertüten auf den deutschsprachigen Raum beschränkt – sogar Weltmarktführer. „Und in diesem Jahr wollen wir die Zweimillionengrenze knacken“, sagt Ursula Nestler.

Ihr Familienunternehmen bestimmt die Geschichte der Schultütenherstellung schon seit gut 100 Jahren maßgeblich mit. Der Brauch, Kindern zum Schulanfang Tüten mit Süßigkeiten zu schenken, entwickelte sich Anfang des 19. Jahrhunderts in Thüringen und Sachsen. Anfangs noch von der Familie gebastelt, entstand ab 1910 eine kleine Zuckertütenindustrie – nachdem Carl August Nestler damit begonnen hatte, in seiner Kartonagenfabrik in Wiesa im Erzgebirge die Schultüten erstmals maschinell zu fertigen.

Ein Name wie Müller

Emil Nestler, der Großvater der heutigen Geschäftsführerin, übernahm nach dem Zweiten Weltkrieg die Fabrik – ohne mit dem Gründer verwandt gewesen zu sein. „Nestler ist bei uns so verbreitet wie anderswo Müller“, erklärt Ursula Nestler diesen Zufall. Der große Schlag folgte 1972: Das private Familienunternehmen wurde zwangsverstaatlicht und dem VEB Verpackung Leipzig zugeschlagen. Ursulas Vater Heinz, der inzwischen den Betrieb führte, wurde zum Sachbearbeiter degradiert.

„Leider konnte mein Vater nicht mehr erleben, wie ich 1990 die Firma zurückkaufte“, sagt Ursula Nestler. Die studierte Ökonomin konnte noch auf die guten Kontakte ihres Vaters zurückgreifen, der sie als Kind mit zu Messen genommen hatte, und baute nach der Wende ein neues Vertriebsnetz auf. 1998 zog die Firma aus Wiesa ins benachbarte Ehrenfriedersdorf. „In Wiesa hatten wir noch uralte Gebäude und Maschinen“, sagt Ursula Nestler.

Heute arbeiten in den Fertigungshallen am Rande der Kleinstadt 70 Beschäftigte und stellen neben Schultüten auch Ostereier und Weihnachtskugeln aus Pappe her. „Bei den Ostereiern sind wir sogar der einzige Produzent in ganz Deutschland“, sagt Ursula Nestler. Auch Schulhefte und Bastelzubehör würden immer beliebter.

„Unser großes Plus ist die Schnelligkeit“, versucht die Chefin den Erfolg ihrer Firma zu erklären. Sie könne „just-in-time“ produzieren, was bei den immer schneller wechselnden Moden beim Schulbedarf entscheidend sei. Bei Schnappi, dem Krokodil, habe es nur zwei Wochen vom Handschlag bis zur ersten produzierten Tüte gedauert. Am Ende dreht sich bei der Schultütenherstellung aber alles um die Motive. Aktuell sind die „Cars“ aus dem gleichnamigen Kinofilm und Filly-Pferde der Renner. Ursula Nestler muss dafür jedes Jahr mit den Managern von Mattel oder Disney um die Lizenzen feilschen. „Wir sind ein klassischer Mittelständler“, sagt die 60-jährige Firmenchefin. Vier Millionen Euro Umsatz peilt man bei Nestler für dieses Jahr an.

Neun Schultüten pro Kind

Dafür, dass die Verkaufszahlen ihrer Produkte immer weiter steigen, sorgt schon allein die steigende Verbreitung der Schultüte in den alten Bundesländern. Früher wurde dort eher selbst gebastelt, die maschinell gefertigte Tüte blieb auf den Osten beschränkt. Seit einigen Jahren aber setzt sich der Trend auch in Westdeutschland durch – allerdings nicht auf einem so hohen Niveau wie in Sachsen, wo im Schnitt auf einen Erstklässler neun Schultüten kommen. Hierzulande schenkt die Oma meistens eine 50-Zentimeter-Tüte, Eltern das klassische Exemplar mit 85 Zentimetern, und für die Geschwister gibt es dazu noch die kleineren Versionen mit 35 oder 22 Zentimetern.

„Die Einschulungsfeier wurde hier ja schon zu DDR-Zeiten wie eine kleine Hochzeit begangen“, sagt Ursula Nestler. Im Westen müsse sie dagegen noch Aufbauarbeit leisten, in Kindergärten und auf Messen gehen, um die kleine Hochzeit auch dort zu etablieren – mit Erfolg. Inzwischen hat es die Firmenchefin mit ihren Schultüten sogar bis ins Ausland geschafft: Eine deutsche Schule in Griechenland hat in diesem Jahr erstmals einen Klassensatz geordert.