SZ + Feuilleton
Merken

Erinnern, aber bitte ohne Mythen und Vorurteile

Zum Holocaust-Gedenktag sollten wir nicht die immer gleichen tränenreichen Theorien wiederholen. Ein Gastbeitrag aus jüdischer Sicht.

Teilen
Folgen
NEU!
Eine junge Frau läuft in Berlin durch das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Am 27. Januar jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau zum 75. Mal.
Eine junge Frau läuft in Berlin durch das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Am 27. Januar jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau zum 75. Mal. © dpa/Christoph Soeder

Von Herbert Lappe*

Gedenktage werden zu Ritualen, je länger die Ereignisse zurückliegen. Dabei werden bestimmte Ansichten, Aussagen oder Theorien wiederholt, bestenfalls mit anderen Worten. Für mich als Sohn zweier Holocaust-Überlebender, geboren in London und seit 1949 wohnhaft in Dresden, bietet der Holocaust-Gedenktag Anlass für viele Fragen: Weshalb akzeptierten so viele Deutsche die Judenfeindschaft der Nazis? Weshalb unterstützten sie sie?

Denn diejenigen, die unter Lebensgefahr Juden halfen, mussten ständig befürchten, von Nachbarn verraten zu werden. Weshalb gab es keine Proteste gegen die Berufsverbote, die Enteignungen armer wie reicher Juden, die Verhaftungen Tausender jüdischer Männer im November 1938, gegen die Vertreibungen von Juden aus ihren Wohnungen, gegen den Zwang, den Judenstern zu tragen? Weshalb wurden brave Familienväter als Mitglieder der Polizei-Bataillone zu Massenmördern?

Einige Kirchenvertreter prangerten die systematische Ermordung von Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen an. Im Ergebnis wurden die Tötungsaktionen, wenn auch nicht vollständig beendet, so doch wenigstens stark eingeschränkt. Warum aber gab es keinen oder kaum Widerstand gegen die Verfolgung der Juden, stattdessen sogar eine Toleranz?

Mich überzeugt die Erklärung des Historikers Götz Aly, dass der Neid vieler Deutscher den Judenhass erzeugte und damit den Antisemitismus salonfähig machte. Neid auf Juden wegen ihres materiellen Wohlstands, Neid auf ihre wirtschaftlichen Erfolge oder auf ihren Anteil am kulturellen Leben, auf jüdische Intellektuelle. 1933 waren ungefähr 25 Prozent der Rechtsanwälte in Preußen und etwa 16 Prozent der Ärzte in Deutschland Juden. Ebenso auffällig ist die große Zahl von deutschen Nobelpreisträgern mit jüdischem Hintergrund. Dabei betrug der Anteil von Juden an der deutschen Bevölkerung 1933 weniger als ein Prozent.

Um dies erklären zu können, müssen wir uns von der noch immer verbreiteten Vorstellung der ständigen Benachteiligung von Juden im Vergleich mit der Mehrheitsgesellschaft seit dem Mittelalter lösen. Dazu schrieb der Historiker Salo Wittmeyer Baron bereits 1928: „Es wird Zeit, mit der tränenreichen Theorie zu brechen und eine Sicht einzunehmen, die mehr der historischen Wahrheit entspricht.“

Wie verbreitet diese „tränenreiche Theorie“ bis heute ist, zeigte vergangenes Jahr eine Ausstellung über die Geschichte der sowjetischen und deutschen Juden in der Jüdischen Gemeinde Dresden. Darin wurden die Lebensbedingungen der Juden innerhalb des jüdischen Siedlungsgebietes im Russischen Reich beschrieben. Dieses Gebiet wurde nach der ersten Teilung Polens 1772 eingerichtet, als die Juden in den bisher polnischen Gebieten unter russische Herrschaft gerieten. 1791 wurde das Gebiet erheblich erweitert. Es reichte nunmehr vom heutigen Litauen an der Ostsee bis ans Schwarze Meer, ungefähr über eintausend Kilometer, mit den Städten Vilnius, Warschau, Kiew, Odessa. Um 1900 lebten dort rund fünf Millionen Juden. Erst 1917 wurden sämtliche, die Juden betreffenden Restriktionen aufgehoben.

In der Ausstellung lesen wir über die Lebensbedingungen der Juden im Ansiedlungsrayon unter anderem: Juden „dürfen nur in bestimmten Siedlungsgebieten leben, dürfen kein Eigentum an Land besitzen, dürfen keine staatlichen Ämter innehaben.“ Das ist alles richtig. Und Besucher der Ausstellung, die sich nicht mit den Verhältnissen im zaristischen Russland auskennen und die Situation der Juden damals an unseren heutigen Lebensbedingungen messen, werden aus dieser Darstellung auf Benachteiligungen der Juden schließen.

Tatsächlich wurde zurzeit des Ansiedlungsrayons den meisten Bewohnern Russlands, nicht nur den Leibeigenen, sondern auch den Bürgern und den Kaufleuten, die Bewegungsfreiheit vorenthalten, ihre Aufenthaltsmöglichkeiten waren eingeschränkt. Dagegen konnten sich Juden aller sozialen Stände innerhalb des riesigen Siedlungsgebietes frei bewegen. Die jüdischen Gemeinden verfügten in hohem Maße über das Recht zur Selbstverwaltung einschließlich eigener Rechtsprechung. Die meisten Bewohner des zaristischen Russlands waren hingegen weitgehend rechtlose Bauern.

Mit Blick auf den materiellen Wohlstand vieler Juden in Deutschland vor 1933 wird mir oft entgegengehalten: „Aber es gab doch die armen Juden im Scheunenviertel in Berlin.“ Das ist richtig, aber welchen Prozentsatz unter den Juden machten sie aus? Tatsächlich gehörte der größere Teil der Juden in Deutschland dem Mittelstand an. So zählte vor dem Ersten Weltkrieg mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Breslaus zum wohlhabenden Bürgertum. Rund ein Viertel von ihnen gehörte der höchsten Einkommensgruppe an. Dabei machten die Juden nur ungefähr vier Prozent der Bewohner aus.

Deutsche Juden waren mit überwältigender Mehrheit urban und bildungsorientiert. Ein Drittel von ihnen arbeitete in Handel und Gewerbe, nur knapp zwei Prozent in der Landwirtschaft. Dagegen waren ganz grob 25 Prozent der nicht jüdischen Deutschen in der Landwirtschaft beschäftigt. Der Wohlstand zeigt sich auch am überproportionalen Anteil einflussreicher Geschäftsleute jüdischer Herkunft: Der Soziologe Paul Windolf hat die deutsch-jüdische Wirtschaftselite zwischen 1900 und 1933 untersucht. Er schreibt, dass Anfang des 20. Jahrhunderts unter den großen deutschen Konzernen ein dichtes Unternehmensnetzwerk entstanden war. Etwa 16 Prozent der Mitglieder dieses Netzwerks waren jüdischer Herkunft. Im Zentrum des Netzwerks waren etwa 25 Prozent Juden, bei einem Anteil unter ein Prozent an der Gesamtbevölkerung.

Während der Weimarer Republik, mit massenhaft armen Proletariern, gewannen linke Parteien zwischen 25 und 35 Prozent der Wählerstimmen. Diese strebten eine Gesellschaft ohne große soziale Unterschiede an, so wie vorgeblich auch die Nazis. Der Feind aller Armen waren Kapitalisten und Reiche. Wen wundert es, wenn daran die NS-Ideologie von den „raffenden Juden“ gegenüber den „schaffenden Ariern“ erfolgreich anknüpfen konnte und dabei auf den Neid gegenüber Juden setzte?

Um Missverständnissen vorzubeugen: Im Gegensatz zum verbreiteten Wohlstand vor 1933 leben heute etwa 70 Prozent der Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Dresden von Sozialhilfe oder Mindestrente.

Die soziale Lage und die Berufsstruktur der Juden vor 1933 wird häufig damit erklärt, dass sie von der christlichen Gesellschaft seit dem Mittelalter erzwungen worden sei. Die Juden, heißt es in einer Schrift der Bundeszentrale für Politische Bildung, „ausgeschlossen aus den Zünften, von Grundbesitz und vom Staatsdienst, spezialisierten sich auf den Finanz- und Handelssektor (Geldleihe)“. Wenn die Berufsstruktur erzwungen war, wie ist dann zu erklären, dass nach der Aufhebung der Berufsschranken in Deutschland oder Frankreich Juden nur selten zu Landwirten wurden? Auch sind mir in den USA keine bedeutenden jüdischen Farmer bekannt.

In ihrem Buch „The chosen few“ von 2012 versuchen die Italienerin Maristella Botticini und der Israeli Zvi Eckstein diesem Phänomen auf den Grund zu gehen. Die Autoren gehen vom jüdischen „Zwang zur Bildung“ aus: In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, als die meisten Menschen Bauern waren und weder lesen noch schreiben konnten, verlangten die Rabbiner von allen männlichen Juden, ob erwachsen oder noch Kind, sich jüdische Bildung anzueignen. „Studium der Thora, Arbeit und Wohltätigkeit waren die drei höchsten Tugenden jüdischer Väter.“ Was aber kann ein Bauer mit dem Gelernten anfangen? Nichts außer intellektueller Befriedigung. Dagegen konnte er in der Stadt seine Bildung verwerten. Als Händler nutzten ihm die Hebräischkenntnisse zur Verständigung mit anderen jüdischen Händlern rund um das Mittelmeer. Bei Streitigkeiten wendeten jüdische Geschäftspartner das von beiden Seiten anerkannte jüdische Recht an. Als Geldverleiher benötigte man Schreib- und Lesekenntnisse. Etwa seit 900 waren in Mesopotamien und Persien die meisten Juden als Handwerker, im Handel, als Geldverleiher oder als Mediziner tätig. Diese Juden wurden freiwillig Geldverleiher. Der gleiche Mechanismus wirkte in allen europäischen Ländern. Um 1300 waren praktisch alle Juden in Frankreich, Deutschland und Norditalien im Geldverleih engagiert.

Zur Behauptung, dass Juden vom Handwerk ausgeschlossen wurden, weil sie nicht in die Zünfte aufgenommen wurden, schreiben die Autoren: „Der Zeitpunkt des Aufstiegs und der Expansion der Handwerks- und Handelszünfte kann die Spezialisierung der Juden auf Geldverleih nicht erklären. Die Zünfte bestimmten Manufaktur, Handel und Wirtschaft mindestens 200 Jahre später, also nachdem die Juden in den Geldverleih eingestiegen waren und darin führend wurden.“

Aber weshalb wird die seit Jahrhunderten währende erfolgreiche Beschäftigung von Juden im Finanzwesen häufig entschuldigend auf christliche Verbote zurückgeführt oder überhaupt geleugnet?

Bis heute gilt das Finanzwesen in Teilen der Bevölkerung als unmoralisch und verwerflich. Das zeigte zum Beispiel die verbreitete Ablehnung der staatlich gestützten Rettung von Banken während der Finanzkrise. In Deutschland werden Wohlstand oder gar Reichtum häufig nicht als Ausdruck einer Lebensleistung geachtet, sondern als „unverdient“, und sie werden verschmäht.

Christliche Judenfeindschaft wird meist losgelöst von der ökonomischen Stellung der Juden vermittelt. Zweifelsfrei schränkten kirchliche Verordnungen das Leben der Juden ein und bildeten den Hintergrund für Verfolgungen und Beschuldigungen wie die der Brunnenvergiftungen, Hostienschändungen oder Ritualmorde. Wir wissen aber auch, dass häufig ökonomische Gründe, zum Beispiel um der Verschuldung bei Juden zu entkommen, der Hintergrund von Pogromen waren. Dann diente die christlich motivierte Judenfeindschaft zur Rechtfertigung der Verbrechen – war aber nicht deren Auslöser.

Fünfundsiebzig Jahre nach Befreiung des KZ Auschwitz sollten wir unsere Aufmerksamkeit nicht beschränken auf die Opfer des Holocaust. In Sachsen wurden mehrere Menschen, die unter Lebensgefahr Juden halfen, zu überleben, als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Wie wäre es, an sie öffentlich zu erinnern? Bietet sich nicht zum Beispiel in Dresden die Mauer zwischen Neuer Synagoge und Gemeindehaus dafür geradezu an?

Der Blick zurück ausschließlich als Gedenkveranstaltung sollte uns überdies nicht die Sicht auf die Zeit nach dem Holocaust versperren. In Dresden lebten nach dem Kriege verschiedene international bekannte Holocaustüberlebende. Zum Beispiel die Schriftstellerin Auguste Lazar, die Malerin Lea Grundig, der Historiker Helmut Eschwege und mein Vater, der Elektrotechniker Rudolf Lappe. Sie alle waren politisch engagiert. Eines ihrer Motive war die Hoffnung auf eine Gesellschaft, in der es keinen Antisemitismus mehr gibt. Zu einer solchen Gesellschaft gehört, dass man sich um ein differenziertes, fundiertes Bild des Judentums und seiner Geschichte bemüht, frei von Mythen und Vorurteilen.

*Der Autor: Herbert Lappe, 1946 in London geboren, ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde zu Dresden und war mehrere Jahre der jüdische Vertreter im Beirat der Stiftung Sächsische Gedenkstätten.