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Es geht um Leben oder Tod

Romy Bleuel ist 1985 Mutter von Zwillingen geworden. Nur Tochter Julia ist lebend zur Welt gekommen – angeblich. Jetzt will die Familie endlich Gewissheit.

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© privat

Von Heike Heisig

Mit einem Foto von sich und ihrer Tochter Julia ist Romy Bleuel im sozialen Netzwerk Facebook an die Öffentlichkeit gegangen: „Wurdest du im Dezember 1985 im Krankenhaus Leisnig geboren und kennst deine Wurzeln nicht?“ So lautet eine ihrer vielen Fragen. Die 50-Jährige ist auf der Suche nach ihrer Tochter oder ihrem Sohn. Dass es sie oder ihn noch gibt, das ist im Moment eher so ein Gefühl von Julia, die sich mit ihrem Zwilling nach wie vor verbunden fühlt, obwohl sie ihn nur im Mutterleib gespürt hat.

Genau von diesem Gefühl hat Julia ihrer Mutter im Laufe der Jahre oft berichtet, erzählt Romy Bleuel dem Döbelner Anzeiger. Als die Tochter noch jünger gewesen sei, habe sie versucht, darüber hinwegzugehen. „Was sollte ich darauf auch sagen?“ Doch zuletzt habe sie die Beharrlichkeit der Tochter dazu bewogen, darüber nachzudenken, ob sie wirklich noch einmal so tief in die Vergangenheit eintauchen will. Sie überlegt lange. In dieser Zeit sieht sie auch im Fernsehen Reportagen über Zwangsadoptionen in der DDR. Im Internet stößt sie auf die Facebook-Gruppe „Betroffene von Zwangsadoptionen und Säuglingstod“. Sie liest, was die Menschen zu sagen haben – nun möchte sie Gewissheit.

Anfang 1985 wird Romy Bleuel schwanger. Sie lebt damals in dem kleinen Ort Polkenberg. Schon Wochen vor der Entbindung kommt sie ins Krankenhaus. „Ich wurde gehegt und gepflegt. So richtig ist mir das aber erst im Nachhinein aufgefallen. Mein Mann durfte mich zu jeder Zeit besuchen. Die Angehörigen vieler anderer Patienten mussten sich streng an die relativ eng bemessenen Besuchszeiten halten“, erzählt Romy Bleuel.

Das Krankenhaus Leisnig verlässt sie Ende 1985 nur mit ihrer Tochter Julia. Ihr zweites Kind sei tot, schon vor der Geburt soll es gestorben sein, wurde der damals noch minderjährigen Romy mitgeteilt. „Es wurde mir weder gezeigt, noch habe ich erfahren, ob es ein Mädchen oder ein Junge war“, sagt die 50-Jährige.

Letzteres erschwert die Suche jetzt. Dass sie das zweite Baby nicht gesehen hat, bewegt Romy Bleuel schon so viele Jahre und hat die Hoffnung eigentlich erst aufkeimen lassen. Wenn sie zurückdenkt, findet sie auch andere Dinge fragwürdig. Dazu gehört, dass sie zwar eine Sterbeurkunde, aber keinen Totenschein bekommen hat. Außerdem erzählt sie vom sogenannten Begrüßungsgeld. Das habe sie damals für zwei Kinder erhalten. Wieso? „Das stand Eltern nur für lebend geborene Kinder zu“, so Romy Bleuel. Für sie und ihre Familie sind so viele Fragen offengeblieben. Könnte der Zwilling noch gelebt haben? Ist er vielleicht in eine andere Familie gekommen, die die gesamte Vorgeschichte möglicherweise nicht kannte? Nachdem, was sie von anderen Betroffenen erfahren hat, ist für die 50-Jährige einiges denkbar. Einen Grund, ihr ein zweites Kind zu entziehen, sieht sie höchstens darin: „Ich war damals nicht volljährig, bin bei meinem Vater aufgewachsen, der dann auch die Vormundschaft für mein Kind übernommen hat. Vielleicht hat man mir nicht zugetraut, Zwillinge großzuziehen“, mutmaßt Romy Bleuel.

Bis zu ihrem 21. Lebensjahr lebt die junge Mutter in Polkenberg, dann zieht sie mit ihrem Mann weg. Zur Familie kommt 1989 noch ein Sohn hinzu. Jetzt lebt die 50-Jährige in Baden-Württemberg, arbeitet in einer Cafeteria. In ihrer Freizeit interessiert sie sich für verschiedene Elterninitiativen, unterstützt teilweise deren Forderungen, dass bestimmte Akten nicht vernichtet werden dürfen. Denn gerade im Fall von Romy Bleuel könnten die Vorschriften ein Grund dafür sein, weshalb Mütter im Unklaren bleiben. Zumindest, wenn sie so lange mit ihren Recherchen warten wie die ehemalige Polkenbergerin.

„Aus dem Jahr 1985 sind aufgrund des Ablaufs der gesetzlichen Aufbewahrungsfrist von 30 Jahren keine Akten mehr vorhanden.“ Das teilt Helios als derzeitiger Träger des Leisniger Krankenhauses, das vor der Wende ein Kreiskrankenhaus war, Romy Bleuel auf deren Anfrage hin mit. Doch die 50-Jährige will sich durch diese Aussage nicht entmutigen lassen.

Irgendwie treibt sie auch an, dass sich bei ihre zwischenzeitlich zwei Frauen gemeldet haben, denen 1985 im Leisniger Krankenhaus dasselbe wie ihr passiert sei. Das gebe ihr schon zu denken. Auf Fragen dazu antwortete die Klinik bislang nicht.

Auf der Suche nach Antworten hofft die Familie, dass jemand im sozialen Netzwerk vielleicht Ähnlichkeiten mit Mutter und Tochter erkennt und es Hinweise auf ein Kind gibt, das im Dezember 1985 in Leisnig zur Welt kam und nicht bei den leiblichen Eltern aufgewachsen ist. „Dann würde ich gern wissen, wie er oder sie jetzt aussieht und ob es ihm oder ihr gut geht“, sagt Romy Bleuel. Irgendjemanden Vorwürfe zu machen, das liege ihr fern.

Auch auf den Fall ist sie gefasst, dass ihre Nachforschungen ergeben, ihr zweites Kind ist Ende 1985 wirklich gestorben. Sie hat vom Helios-Krankenhaus den Tipp erhalten, sich an die Pathologie der Uni-Klinik in Leipzig zu wenden. „Inzwischen habe ich erfahren, dass es auf dem Friedhof in Döbeln eine Grabstelle für totgeborene Kinder gibt“, so die 50-Jährige. Wenn sich der Weg ihres Kindes dahin zurückverfolgend lasse, wolle sie beim nächsten Besuch ihrer Schulfreundin in Leisnig an dieses Grab gehen: „Dann kann ich abschließen.“ Mit so vielen unbeantworteten Fragen wie im Moment gelingt ihr das nicht.