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Es ist vorbei, Herr Generalmajor

Vor 20 Jahren besiegten Dresdner ihre Angst und besetzten die Zentrale der fassungslosen Staatssicherheit. Ein Deutschlandfunk-Reporter erinnert sich.

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Von Hans Jürgen Fink

Kurz nach Mitternacht war es, als Generalmajor Horst seinen Kopf uns beiden zuwandte und die – bereits längst erwartete – Frage stellte: „Wer sind denn überhaupt diese Herren?“ Mein – inzwischen leider versorbener – Kollege Klaus Peters und ich nannten unsere Namen. Allein um die Wirkung zu testen, fügten wir hinzu: „Deutschlandfunk“. Ungläubig schaute er uns an. Vieles Unvorstellbare hatte der entmachtete Dresdner Stasi-Chef am Abend dieses 5. Dezember 1989 schon über sich ergehen lassen müssen. Aber nun zwei Reporter des „Feindsenders“ mit ihm gemeinsam am Tisch in seinem Imperium – das war, wie sein Mienenspiel zeigte, offenkundig zu viel.

Kein Platz für Ausländer

Schneller als sein Chef fand Herbert Köhler die Sprache wieder. Der Leiter der Aufklärungsabteilung erklärte so kurz wie barsch: „Bürgern eines ausländischen Staates ist der Aufenthalt hier nicht gestattet. Bitte verlassen Sie diesen Raum!“ Widerspruchslos folgten wir dieser Aufforderung, schon um Christof Ziemer nicht in Verlegenheit zu bringen. Soeben hatte der Superintendent von Dresden-Mitte so zielbewusst wie besonnen die Kapitulation des wichtigsten Machtorgans des SED-Regimes zu einem friedlichen Ende verhandelt. Das war Stoff genug für unsere Reportage am Mittag darauf im Deutschlandfunk, live aus dem Sender Dresden des DDR-Rundfunks.

Es war eine gespenstische Szenerie, die uns an diesem kalten Dezemberabend vor dem Tor zur Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit an der Bautzner Straße empfangen hatte. Im fahlgelben Licht drängte sich eine riesige Menschenschar an der hohen Mauer, die den Komplex zur Straße hin abschirmte, zwängte sich durch die schmale Einfahrt ins Innere des Geländes. „Volksverräter“ hatte jemand an die Außenwand in großen Buchstaben geschrieben, und: „Wo sind die Akten?“. Drinnen hingegen an einem Häusergiebel verlangte die Parole noch immer: „Alle Kraft zum Schutze des Sozialismus!“ Die Menschen aber hatten längst ihre Antwort gegeben: „Wir sind das Volk“ tönte es von allen Seiten.

Säcke mit Papierschnipseln

Aufgewühlt laufen sie im ersten Innenhof hin und her. „Wir wollen unsere Akten sehen“, fordern sie, und: „Stoppt die Aktenvernichtung.“ Viele fürchten, dass die Vernichtung des belastenden Materials weiterläuft. Einige haben Säcke mit Papierschnipseln gefunden, andere wollen Stasi-Leute auf frischer Tat beim Schreddern ertappt haben. „Meine Akte will ich selber vernichten“, hat jemand auf sein Plakat geschrieben. Alle klagen über die Polizei, die so spät erst in Aktion getreten ist.

Die Volksseele brodelt. Da öffnet sich die Türe der Stasi-Zentrale. „Macht mal Platz“, ruft ein Mann mit Megafon. Eine Gasse bildet sich. Heraus tritt zunächst der Staatsanwalt, dann ein Mann so um die fünfzig Jahre, weißmeliertes Haar, im gut geschnittenen eleganten grauen Nadelstreifen: Der oberste Dienstherr der Staatssicherheit Bezirk Dresden, Generalmajor Horst Böhm. Aschfahl im Gesicht, den Blick starr auf die tobende, wütende Menge gerichtet, die ihn mit gellenden Pfiffen empfängt. „Volksverräter“, „Lügner“ schallt ihm entgegen, „Stasi-Nazi“-Rufe werden laut. Nichts als eine resignierende Handbewegung bringt er zustande, dann zieht er sich wieder ins Gebäude zurück.

Nur mit Mühe können Christof Ziemer und Arnold Vaatz die dicht gedrängte Menge beruhigen. Noch mischt sich Angst in die Wut. Schließlich stehen die Mitarbeiter der Staatssicherheit noch unter Waffen. „Keine Gewalt“ rufen Besonnene immer wieder. Ein Teil der Menschen strömt ins Gebäude, versammelt sich im großen Konferenzsaal des Hauptgebäudes. Andere verharren im Innenhof, vermuten Gefangene im Gefängnistrakt. „Öffnet die Zellentüren“, fordern sie immer lauter. Die Stasi-Wachleute weigern sich.

Kein Häftling im Fuchsbau

Die Lage wird brenzlig. Nicht auszudenken, wenn Hunderte von Menschen in die schmalen Gefängnisgänge hineinstürmen würden. Superintendent Ziemer handelt schließlich einen Kompromiss aus: 50 Bürgerinnen und Bürger dürfen hinein. Die Türen öffnen sich, wir steigen in den Keller hinab. Gitterstäbe, schwere Türen, schummriges Licht, feucht-stickige Luft. Alle Zellentüren werden uns aufgeschlossen, die Räume sind alle leer. Von Wasserzellen ist plötzlich die Rede, wir werden in einen unterirdischen Gang geführt. Nicht alle der 50 sind uns hierher in den „Fuchsbau“ gefolgt, manche gruselt es, es packt sie die Angst, sie halten den seelischen Druck nicht aus. Aber auch hier gibt es keine Spur mehr von Inhaftierten. Die Stasi hat ihre Delinquenten rechtzeitig entlassen oder verlegt – niemand weiß es, das Wachpersonal schweigt. Niemand hat einen Lageplan. Wir sehen nur, was die Stasi-Mannschaft uns zeigt.

Mit Christof Ziemer eilen wir in den großen Konferenzsaal im ersten Stock. Hunderte diskutieren, wie die Akten zu sichern sind und wer die Kontrolle über die Gebäude übernimmt. Freiwillige melden sich, bilden mehrere Gruppen, verständigen sich mit der Polizei, die sich plötzlich als wirkliche Volkspolizei versteht, über Sicherheitspartnerschaften.

Wir betreten den Saal gerade im entscheidenden Augenblick: Generalmajor Böhm wird aufgefordert, seine Pistole abzugeben. Er tut es tatsächlich – langsam, mit versteinertem Gesicht. Und erfährt, dass er fortan unter Hausarrest steht. Alle sehen es mit eigenen Augen und wissen in diesem Moment: Die Macht der Stasi ist gebrochen. Die Kunde davon verbreitet sich in Windeseile. Nun scheint es, dass die Menschen gelassener, mit kaum fassbarem Stolz das Gelände inspizieren und über endlose Gänge mit verriegelten und versiegelten Zimmertüren schlendern. So als hätten sie endlich diese Krake besiegt, die so vieler Leben über Jahrzehnte bedrängt und vernichtet hat.

Spitzelgeschenke in der Vitrine

Wir folgen dem Superintendenten die Treppen hinauf bis ins oberste Stockwerk. Fast sind wir mit ihm allein, als sich dort zu später Stunde eine schwere Doppeltüre öffnet: Wir sind in der Kommandozentrale angekommen. An der Chefsekretärin vorüber, in deren Gesicht Wut, Verzweiflung und Hass miteinander ringen, treten wir in das Allerheiligste der Dresdner Staatssicherheit ein: in der Mitte ein lang gestreckter T-Tisch, die flankierenden Sessel im Metallrahmen und mit grün-gelbem Cordstoff bezogen. Holzgetäfelt die Wände, eine Art Gobelin als einziger Schmuck.

An der Stirnseite des Raumes eine Vitrine: hinter Glas Lenins Gesammelte Werke, diverse Panzer-Modelle. Dazu Pokale, Medaillen und andere Auszeichnungen. Schließlich zwei besondere Erinnerungsstücke mit persönlicher Widmung für Horst Böhm von Spionen, die in der Bundesrepublik höchst erfolgreiche Dienste für die DDR leisteten: eines von Heinz Felfe, der lange Jahre im Kölner Verfassungsschutz operierte. Das andere ein Foto von Christel Guillaume, datiert auf den 7.12.1982, von der Ehefrau des DDR-Kundschafters also, dessen Enttarnung im Bundeskanzleramt zehn Jahre zuvor Willy Brandt zu Fall gebracht hatte. Besagte Vitrine ist übrigens verschwunden.

An jenem Dezemberabend sitzt am langen Konferenztisch, tief in sich gekehrt, der Mann, der bis zu dieser Stunde den Bezirk Dresden für die SED unter Kontrolle hielt. „Fast ein Häufchen Elend“, notieren wir damals, apathisch in seinem Sessel versunken. Kaum scheint er wahrzunehmen, was um ihn herum geschieht. 20 Jahre danach erinnert sich auch Christof Ziemer, Böhm habe damals wie unter Drogen oder starken Medikamenten gewirkt, kaum in der Lage, auf Fragen zu reagieren. Zwei Monate später wird der Generalmajor Selbstmord begehen.

Polizei und Bürger gemeinsam

Mit den Besetzern spricht statt Böhm zumeist Abteilungsleiter Herbert Köhler. Ordensgeschmückt, aber in reichlich zerknitterter Uniform trifft der Militärstaatsanwalt ein. Polizei und Bürger gemeinsam sollen „das Objekt Bautzner Straße“ sichern, dafür macht sich auch Bezirks-Staatsanwalt Lindner stark, der gegenüber der bisher allmächtigen Stasi Morgenluft wittert und die nötigen Anordnungen trifft. Ein Lageplan des Stasi-Geländes wird angefordert, um unterirdische Geheimausgänge zu identifizieren. Was besprochen und beschlossen wird, notiert eine junge Frau vom Neuen Forum, die mit am Tisch sitzt.

Plötzlich kommt ein junger Mann hereingestürmt – aus Radebeul, ruft er, wo die Bürger eine Stasi-Villa entdeckt hätten und nun vermuten, dass Akten aus Dresden dorthin verschleppt wurden. Er bittet um die Hilfe der Polizei. Prompt greift Kripochef Wessel zum Hörer. Zufrieden zieht der junge Mann ab, da erscheint Jürgen Bergmann in der Tür. Der Superintendent von Dresden-Nord berichtet von Akten mit Namen observierter Pfarrgemeinden und Listen von Christen, die an evangelischen Rüstzeiten teilnahmen. Auch die Kantinen-Kartei habe sich eingefunden. 1300 Mitarbeiter hätten sich hier versorgt, so der Kirchenmann.

Sprachlose Abteilungsleiter

Vom Konferenzzimmer führt eine Tür zu einem Nebenraum. Die ganze Zeit über steht sie einen Spalt weit offen. Der Blick fällt auf eine Gruppe von Männern –15 bis 20 an der Zahl –, die mit hängenden Köpfen dumpf-schweigend vor sich hin starren. Es sind die Abteilungsleiter. Zusammen mit Köhler geht Superintendent Ziemer zu ihnen hinein. Noch heute wundert er sich, wie er, umringt von tiefer Feindseligkeit und im Grunde ohne jedes Mandat, diesen Männern so einfach verkünden konnte, sie seien ab sofort vom Dienst suspendiert. Sie räumen schweigend das Feld. Die Stasi-Auflösung in Dresden hatte begonnen.

Bald darauf verließen auch wir beiden Deutschlandfunker den Ort des Schreckens, der nun Vergangenheit war. Am Ausgang mussten wir den Polizei- und Bürgerposten unsere Ausweise zeigen. Aha, dachten wir sehr zufrieden, die Sicherheitspartnerschaft funktioniert.