Merken

Essen, was auf den Tisch kommt im Wohnzimmer-Restaurant

Mit über 80 Jahren führt das Ehepaar Gruhl in Dresden ein Restaurant - in der eigenen Wohnstube. Die Speisen sind ebenso eigenwillig wie die Betreiber. Gegessen wird, was auf den Tisch kommt.

Teilen
Folgen
NEU!

Dresden. Von der Decke baumeln Töpfe und Pfannen, Kochtöpfe klappern, durch die kleine Küche wabert der Duft von Lorbeer, Nelken und Hefe. Mittendrin wuselt Ursula Gruhl zwischen Herd und Spüle hin und her, das lange weiße Haar zum Zopf gebunden. Dass sie bald 86 Jahre alt wird, sieht man ihr nicht an. Nebenan kämpft Ehemann Christian mit einem Berg Dinkelteig, aus dem der 83-Jährige eifrig Brötchen formt. Das Ehepaar gehört wohl zu den ungewöhnlichsten Restaurantbetreibern in Deutschland: In einem Alter, in dem die meisten Rentner die Füße hochlegen, erfüllten sie sich mit der Gründung ihres Vollwert-Restaurants „Chicorée“ einen Lebenstraum.

Wer bei Gruhls essen will, muss zu ihrem Privathaus im Dresdner Süden fahren. Im Erdgeschoss haben sie ihr Restaurant eingerichtet, das eher an eine Wohnstube erinnert: Dicker Teppich auf dem Boden, tickende Wanduhr, Wohnzimmertische mit Häkeldeckchen. Auch eine Speisekarte sucht der Gast vergebens. Gegessen wird, was auf den Tisch kommt. „Sonst würden die Besucher ja nur das bestellen, was sie schon kennen“, ist Christian Gruhl überzeugt. Und schließlich will er seine Gäste ja für die gesunde Vollwertkost begeistern.

Kein Fleich auf dem Teller

Also gibt es ein Sieben-Gänge-Menü, das im Kern immer aus den gleichen Zutaten besteht: selbst gebackene Dinkelbrötchen mit Tomatenbutter, Zucchini-Suppe, Achterlei-Salat, Tomaten und Reis als Hauptgang, gedünsteter Fenchel mit Dip, Holundersuppe mit Grießklößchen und Haselnuss-Buchweizenkuchen. Auf Fleisch und Fisch wird verzichtet. „Wegen der tierischen Eiweiße, die für viele Krankheiten zuständig sind“, sagt Christian Gruhl.

Die Aufteilung ist klar, das Team eingespielt: Er ist für das Kalte zuständig - formt den Teig, schnippelt Salat, rührt die Salatsoße an. „Für die übrigens selbst schon Sterneköche das Rezept haben wollten“, wie der kleine drahtige Mann mit dem weißen Pferdeschwanz stolz erzählt. Seine Frau kümmert sich um alle warmen Speisen, steht für ihr Menü mehr als drei Stunden lang in der Küche.

Gekocht wird nur nach Voranmeldung - mal ist ein paar Tage hintereinander Betrieb, mal kommt zwei Wochen lang niemand. Zwischen 100 und 200 Leute kommen pro Jahr ins „Chicorée“. „Wir machen es nicht, um Geld zu verdienen, sondern um für gesunde Ernährung zu werben.“ Gruhls sind Feuer und Flamme für ihr Projekt.

Dass der Funke überspringt, zeigt das Gästebuch: Hier haben sich Besucher von Hamburg über Berlin bis Stuttgart verewigt, alle bedanken sich für die Gaumenfreuden. „Es kommt schon mal vor, dass uns Gäste nach dem Menü umarmen. In welchem Restaurant passiert das schon?“, fragt Christian Gruhl. An diesem Tag im Januar sind zwei Ehepaare aus Dresden gekommen. Sie dürfen einen Blick in die Küche werfen, in der es dampft und die Getreidemühle rattert.

Kostenlose Gesundheitstipps

Dann werden die lauwarmen Brötchen mit lockerer Tomatenbutter serviert. „Schmeckt irgendwie anders, aber ganz wunderbar“, urteilt Elke Gresch begeistert. Auch der frische Holunderblütentee aus dem eigenen Garten findet Anklang. Christian Gruhl serviert, hält nebenbei Vorträge über gesundes Essen - vom wertvollen Hunza-Salz mit seinen 84 Elementen, von der Schädlichkeit von Weißmehl - und verteilt Kopien über die Herstellung von Kristallsalz-Sole.

Schon vor mehr als 30 Jahren hatten die Gruhls ihr „Bekehrungserlebnis“, wie sie es nennen - in einem bayerischen Biohotel. Seitdem kochen sie zu Hause Bio und Vollwert. Beide sind gebürtige Dresdner, gingen in den 50er-Jahren in die Nähe von Stuttgart, er baute als Ingenieur sein eigenes Unternehmen auf. 1998 kamen sie zurück nach Dresden, übernahmen ihr Elternhaus. Dann reifte die Idee, ein eigenes Vollwert-Restaurant zu eröffnen - vor vier Jahren war es so weit.

Auf der Couch zu sitzen und die Beine hochzulegen, können sich Gruhls nicht vorstellen. Zwar gibt es auch Tage, an denen sie morgens keine Lust haben, wenn das Knie wieder einmal nicht so recht will oder das ein oder andere Zipperlein sie plagt. Aber wenn sie dann in der Küche stehen und die Gäste begeistert sind, sind sie wieder Feuer und Flamme. „Manche sagen, wir sind verrückt“, lacht Frau Gruhl. „Und da kann man ja eigentlich auch nur zustimmen.“ (dpa)