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So ging der Polizeiruf aus Rostock an die Nieren

Das missbrauchte Mädchen - der preiswürdige Krimi schaut in die Abgründe einer Familie.

Von Rainer Kasselt
 2 Min.
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Evelyn Sonntag (Judith Engel) gibt die Hoffnung nicht auf, dass ihre Tochter wiederkommt: Kerzengerade und um verlorenen Halt bemüht, handelt sie wie im Wahn.
Evelyn Sonntag (Judith Engel) gibt die Hoffnung nicht auf, dass ihre Tochter wiederkommt: Kerzengerade und um verlorenen Halt bemüht, handelt sie wie im Wahn. © NDR

Jessica Sonntag ist kein Sonntagskind. Im Teenageralter schmeißt sie die Schule hin und zieht in eine WG, dann verliert sich ihre Spur. Seit 15 Jahren wird sie vermisst. Die verzweifelte Mutter glaubt, dass die Tochter noch lebt, und verändert nichts in deren Zimmer. Der Vater hat sie vor drei Jahren für tot erklären lassen. Doch plötzlich ist Jessica wieder da, taucht auf wie ein Gespenst.

Der Rostocker „Polizeiruf 110 – Nur Gespenster“ geht an die Nieren. Er schaut in die Abgründe einer Familie. Der pädophile Vater missbrauchte jahrelang seine Tochter. Als sie acht ist, wird der fünfjährige Bruder Henrik ungewollt Zeuge. Man sieht nur seine schreckgeweiteten Augen. Der Film stellt Fragen: Wie lebt eine Frau mit der Schuld, bei den Verbrechen des Ehemanns weggesehen zu haben? Wieso hat niemand der Nachbarn etwas bemerkt?

Trotz Nebensträngen passte das Puzzle

Die Autorin Astrid Ströher bringt das Kunststück fertig, Familiendrama und Krimispannung in der Waage zu halten. In ihrem dritten Fall stochern die miteinander fremdelnden Ermittlerinnen Katrin König (Anneke Kim Sarnau) und Melly Böwe (Lina Beckmann) lange im Nebel, ehe sie beim packenden Finale rechtzeitig zur Stelle sind. Nebenstränge in die Sadomaso-Szene oder eine Schönheitsklinik führen scheinbar vom Geschehen weg, passen aber zum Puzzle. Im Unterschied zu vielen Krimis schlägt die Logik in diesem „Polizeiruf 110“ keine Purzelbäume.

Der Film ist glänzend besetzt, die Handkamera zeigt die Gesichter in Großaufnahme. Der nervöse Blick, die fahrige Geste, das Zucken mit den Mundwinkeln verraten mehr als viele Worte. Im Zentrum steht die verhärmte, verhuschte Figur von Jessicas Mutter. Kerzengerade und um verlorenen Halt bemüht, wird sie beeindruckend von Judith Engel verkörpert. Sie möchte von Schuld nichts hören, ist dem Ehepartner unterwürfig ergeben: „Manche Männer sind eben so.“ Stark die Rolle des Bruders Henrik, gestaltet von Adrian Grünewald. Gekrümmt von Angst vor dem dominanten Vater, flieht er das Elternhaus. Nach dem Freitod Jessicas packt ihn ohnmächtiger Schmerz, er schlüpft mit blonder Perücke in die Rolle seiner Schwester, wird zum Racheengel.

Ein Film, der in Erinnerung bleibt. Er zeigt, zu welchen traumatischen Folgen Kindesmissbrauch führen kann. „Aber keiner sieht es und keiner will es sehen“, meint Regisseur Andreas Herzog. Familie Sonntag ist kein Einzelfall.