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Frau „Schirm-Dunger“ steht im Regen

Christina Seipt schließt ihr fast 100 Jahre altes Schirmgeschäft am Schillerplatz. Freiwillig geht sie nicht.

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© Sven Ellger

Von Nadja Laske

Wo bleibt der Rettungsschirm? „Es gibt keinen für mich“, sagt Christina Seipt. Die 66-Jährige zieht die Schultern hoch und lässt sie wieder fallen. „Freiwillig gehe ich nicht.“ Seit 50 Jahren arbeitet sie im Fachgeschäft, das ihr Großvater vor einem knappen Jahrhundert am Schillerplatz gegründet hat. Nach dessen Sohn führt es nun die Enkelin – Schirmmacherin in der dritten Generation. Seit Montag lesen Passanten, die am Schillerplatz einkaufen oder zwischen den Haltestellen hin und her eilen ein großes Schild am Schaufenster. Christina Seipt preist keine neue Kollektion Taschenschirme an, nicht ihren in der ganzen Stadt einmaligen Reparaturservice. Nein, sie verabschiedet sich.

Räumungsverkauf. Das kann nach Neustart an einem anderen Standort klingen. Christina Seipts Adresse ist seit 80 Jahren dieselbe. Nach den ersten elf Jahren „Schirm Dunger“ hatte ihr Opa, Kurt Dunger, den kleinen Laden mit der Anschrift Angelsteg 5 bezogen und war anfangs nicht begeistert gewesen. Zu wenig Laufkundschaft fürchtete er. Dabei lebte er hauptsächlich von Stammkunden. Schließlich war es in der DDR unwahrscheinlich, dass man im Vorbeibummeln mal eben schnell einen Knirps für 70 oder 80 Mark mitnahm. Die Anschaffung eines modernen Minischirms zum Zusammenschieben war ein Ereignis. Den musste man „erwischen“. Ob taschenkompatibles Model oder Stockschirm, ihre Besitzer hegten ihren Alltagsbegleiter und ließen ihn vom Fachmann pflegen. Geknickte Speichen, verschlissener Stoff, kaputte Schiebemechanismen? Die Reparatur von Schirmen war der wichtigere Teil des Geschäftes. Dafür kamen die Leute gezielt zu „Schirm-Dunger.“ Ihr Retter.

Dieser Tage drücken Kunden die Ladentür nicht mit hoffnungsvollen Gesichtern auf. Viele sind bestürzt. Christina Seipt kennt sie seit Jahren, ja Jahrzehnten. Andere tun bestürzt. Christina Seipt hat sie noch nie im Laden gesehen. Die Aussicht auf Prozente lockt Vorbeikommende an. Der Chefin ist es recht. „Ich versuche, so viel Ware wie möglich loszuwerden, bevor ich hier alles ausräumen muss.“ Am 30. September ist Schluss. Dann stirbt eine Tradition. Als Ausbildungsberuf wurde Schirmmacher schon längst aus dem Register gestrichen. Zwar gibt es noch Markenware, doch das Gros der Menschheit schützt seinen Schopf mit Billigschirmen aus dem Drogeriemarkt. Der Schirm, ein Wegwerfprodukt.

Ab Oktober ist ein Mieter gefragt, der sehr viel mehr bezahlen kann als Christina Seipt. Ihr Vertrag läuft aus. Im Internet unterbreitet eine Immobilienfirma den Laden als „Top Angebot“: 75 Quadratmeter Fläche insgesamt, davon 48 Quadratmeter Verkaufsraum, 27 Quadratmeter Keller zu 1 600 Euro Miete monatlich plus 100 Euro Betriebskosten. Mit Strom, Telekommunikation, Heizung und Versicherung müsste Christina Seipt jeden Monat rund 2 000 Euro aufbringen – rund doppelt so viel wie bisher. Sie weiß, das ist nicht zu schaffen. Auf eine moderatere Mieterhöhung hatte sie sich schon vor zwei Jahren mit dem Vermieter einigen können. Doch das war keine Dauerlösung. Nun läuft die Frist ab. „Solange ich gesund bleibe und mich fit fühle, hätte ich gern weitergemacht“, sagt die Schirmmachermeisterin, deren Kinder andere Pläne für ihr Leben haben. Trotz eines arbeitsreichen Lebens falle ihre Rente nicht üppig aus. Dazuverdienen will sie auch weiterhin. „Außerdem kann ich nicht von jetzt auf gleich gar nichts mehr arbeiten, daran muss ich mich erst gewöhnen.“ Doch bevor sie sich einen Minijob suche, stehen ein bisschen Urlaub und Zeit mit den Enkelkindern an.

„Das ist ja eine Natoplane“, erklärt ein Zufallskunde seiner Frau. Die streift den armeegrünen Regenmantel aus „Nylon“ über und dreht sich vor dem Spiegel. Oder doch lieber einen Hut? Auch Schals und Tücher stapeln sich im Regal. Christina Seipt verkauft gerade einen Rucksack aus ihrem Taschensortiment. Abschied auf Raten.

www.schirm-dunger.de