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Ganz ohne alles

Schon immer tummeln sich die Nackten am Niederen Waldteich bei Moritzburg. Doch die FKK-Freunde werden älter und finden kaum noch Nachwuchs.

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Von Christina Wittich

Die Gedanken sind frei. Sie schweifen über die Wipfel rauschender Eichen und Weißbuchen und folgen vereinzeltem Kinderlachen. Sie kreisen übers Wasser, eingebettet in Schilf, umsäumt von Teichrosen, begrenzt von sandigem Zeltplatz und grüner Wiese. Die Bonsai-Ausgabe einer Holzbrücke führt über einen Graben, den ein kleiner Mensch leichten Schrittes überqueren könnte. Er würde es nicht einmal merken. Er würde nur den Wind spüren überall auf der blanken Haut, am Bauch, am Po, an den Waden. Freikörperkultur herrscht in dieser Idylle. Hier bewegt sich der Mensch unbeschwert – und unbekleidet.

Leise plätschert das Wasser des Niederen Waldteiches bei Moritzburg, wenn die Schwimmer hineinsteigen. Manche prusten, wenn sie herauskommen. Sie sind nicht mehr die Jüngsten. Die meisten von ihnen Großeltern oder auf dem besten Wege dorthin. Sie sind die Waldteichfreunde Moritzburg, und sie sind nackt. So nackt, wie das Leben, wie Limo oder Bier, ein Übermaß an Würstchen und Kartoffelsalat oder wie Sport von Kindesbeinen an sie schuf. Man erkennt Narben, ahnt längst vergangene Schwangerschaften oder Operationen, sieht Kraft und Lebensfreude und Leid. Und nahtlose Bräune.

Befreit von Badehosen

Der Naturistenverein hat ein Familienschwimmen organisiert an diesem Nachmittag. Befreit von Badehose und Bikini schwimmt man einmal im Zickzack über den Teich. Kein Andrang, keine Hektik am Einstieg. Mit nichts als Badelatschen und einem Basecap bekleidet, sitzt der Listenführer auf seinem Stuhl am Campingtisch und trägt die Teilnehmer ein. 27 sind es bisher. Die jüngste acht, der älteste 91 Jahre alt. Man kennt sich schon lange. „Wolfgang, wie geht’s dir, was macht dein Arm?“, fragen die Menschen im Vorübergehen. Und Wolfgang, weißes Haar auf Kopf und Brust, sitzt auf der Bank neben dem Teich und lächelt sein freundliches Lächeln. „Gut geht’s, tut nicht mehr weh.“ Der 72-Jährige trägt weiße Bermuda-Shorts, die er zum Schwimmen auszieht, und einen blauen Gips am rechten Arm, der in einer Woche verschwindet. Sein Arm wird dann aussehen wie ein weißer Fremdkörper am ansonsten sonnengeküssten Leib.

„Mein Mann war übermütig“, erzählt Ingeborg Eichler wenig später auf dem Weg zum Bungalow. Wie eine Toga hat sie sich ein leichtes Tuch über die Blöße gebunden. „Ich bitte ihn immer, vorsichtig mit dem Fahrrad hier übers Gelände zu fahren, aber sobald er denkt, ich kann ihn nicht mehr sehen, …“. Sie macht eine Pause, zuckt mit den Schultern, winkt ab und zeigt auf den Boden: „Hier, über so eine Wurzel ist er gestürzt, weil er einhändig gefahren ist.“ Mit der anderen Hand hatte Wolfgang Eichler den Bierkasten auf dem Gepäckträger festgehalten. Das „Knöpfchen vom Ellenbogen“ ist ihm beim Sturz abgebrochen, konnte aber wieder befestigt werden.

Zu Hause, in ihrer Wohnung in Dresden-Zschertnitz, wollten die 68-Jährige und ihr Ehemann dennoch nicht bleiben. „Da, wo es schön ist, wird man auch schneller gesund“, sagt sie. „Und hier fühlen wir uns wie zu Hause.“ Seit über 30 Jahren. Schon 55 Tage haben sie dieses Jahr in der Freikörper-Enklave am Waldteich verbracht.

Seit 1996 steht ihr Caravan auf einer kleinen Anhöhe des elf Hektar großen Geländes und wurde seitdem keinen Zentimeter mehr wegbewegt. Vorher besaß das Paar ein Zelt oder war Tagesgast. Ihr sechseinhalb mal zweieinhalb Meter großes Sommerdomizil ist eingerichtet wie eine Wohnung in Kleinformat mit gemütlicher Sitzecke, vor Sauberkeit blitzender Kochnische, einem kleinen Flachbildfernseher mit Satellitenempfang und einem Schrank, in dem Ingeborg Eichler ihre Gläser aufbewahrt. Nur weil sie campen, müssen sie ja nicht gleich aus Plastikbechern trinken. Von den Stühlen auf der Veranda vor dem Wohnmobil geht ihr Blick über einen Zaun und gelbe Felder in Richtung Flughafen Klotzsche. Früher, als er beruflich viel fliegen musste, hat Wolfgang Eichler auch schon mal seinen Koffer von dort zum Wohnwagen bringen lassen. Man sieht den Flughafen nicht, „man sieht nur, wie die Menschen in den Urlaub fliegen und wieder ankommen“, sagt Ingeborg Eichler.

Zweimal im Jahr fliegen auch die Eichlers in den Urlaub, zum FKK nach Gran Canaria zum Beispiel. „In einen Badeanzug kriegt mich nie wieder jemand hinein“, sagt die Rentnerin. Sie und ihr Mann sind Teil des festen Stamms, der Seele des Naturistenvereins Waldteichfreunde Moritzburg. Zwei von ungefähr 560 Mitgliedern. Zwei, die geblieben sind, als die Reisefreiheit die Textilfreiheit ersetzte und ungefähr 500 andere nach und nach Teich und Verein verließen, um die Welt zu entdecken und nicht zurückkehrten in den Wald.

Keine Pflicht zum Nackigsein

Der gesamte Mitteldeutsche Naturistenverband hat heute gerade noch 700 Mitglieder. Es ist eine Entwicklung, die Rainer Jentzsch immer noch Sorgen bereitet. Er kommt aus Wurzen und ist seit 1992 im Verein mit dabei, seit 2006 ist er hier der 1. Vorsitzende und muss zusehen, wie die Mitglieder seit Jahren schon schwinden. Jentzsch, inzwischen auch Rentner, trägt ein Hemd und kurze Hosen. Mit seinem Enkel hat er noch einen Ausflug in die Umgebung geplant. „Die Waldteichfreunde sind ein toleranter FKK“, sagt er, und keineswegs so, wie es die aktuelle Fernsehwerbung eines Schuhversandes suggerieren möchte. Niemand muss am Eingang seine Kleidung ablegen. Pflicht zum Nackigsein besteht nur auf der Liegewiese und im Wasser. „Ansonsten so, wie es jedem angenehm ist“, sagt der Vereinsvorsitzende. Auch wenn es im Verein durchaus Nudisten gibt, die die Regeln gern strenger auslegen würden. Am vereinseigenen Clubraum neben dem Imbissstand hängt sogar ein Schild, auf dem groß und deutlich das FKK-Zeichen durchgestrichen ist. Drinnen stehen neue Polstermöbel, da setzt man sich bitte nicht mit nacktem Po drauf. Hygiene muss sein.

Rainer Jentzsch drückt sich etwas umständlich aus, wenn er von der Entwicklung der Waldteichfreunde spricht: „Für nächstes Jahr sehen wir schon eine Fluktuation, weil wir einen sehr hohen Altersdurchschnitt haben. Durch diesen demografischen Faktor gehen einige Leute ab und wir kriegen nicht so viele junge Leute dazu.“

Es liegt nicht am Nacktbaden, am Nacktsonnen, am Nacktsein. Freikörperkultur kommt wieder in Mode. Nach Jahren der Prüderie in knappen Bikinis erobern sich die Nudisten ihre Plätze an den Baggerseen, Teichen und am Meer zurück. Sie haben nur keine Lust auf Vereine. „Junge Menschen wollen sich nicht mehr unbedingt binden“, weiß Rainer Jentzsch.

Dagegen kann auch er wenig tun. Er kann nur auf die Sparsamkeit der Deutschen setzen, die ihren Urlaub inzwischen wieder lieber vor der Haustür verbringen. Er kann nur werben mit den Idealen der Naturisten, die mehr als 100 Jahre nach ihrer Entstehung inzwischen wohl ein wenig altmodisch geworden sind, fast schon romantisch klingen. „Der Grundgedanke ist, sich frei in der Natur zu bewegen“, sagt Rainer Jentzsch, „im Einklang mit der Natur zu leben, die Natur bei Sport und Spiel zu genießen, sich zu erholen und seinen Körper zu stärken.“

Gegründet wurde der Verein vor 20 Jahren. Nackt gebadet hat man im heute rund 500 Jahre alten Niederen Waldteich schon vor 100 Jahren. Die Brücke-Maler nutzten das Areal für ihre Aktzeichnungen und das Gewässer zum Abkühlen. Später war das Gebiet ein beliebtes Naherholungsgebiet. Zu DDR-Zeiten habe man an sonnigen Tagen auf der Wiese gelegen wie Sardinen in der Dose: gut eingeölt und dicht beieinander, erinnert sich Ingeborg Eichler. Ach, was waren das für Zeiten. „Dann strömten morgens die Trabis hierher und parkten in einer Schlange entlang der Zugangsstraße. Rein ließ man eigentlich nur noch den einen Bus, der um acht in Dresden wegfuhr. Das Tor wurde später zugeschlossen, weil hier inzwischen mehrere Tausend Leute drin waren. Das Bad war voll, brechend voll.“ Schön war die Zeit.

Mit einem Sportwart, der an den Wochenenden zur Morgengymnastik antreten ließ. Mit regelmäßigen Volleyballturnieren und, der lästigen Alltagsuniform entledigt, dem Gefühl der Freiheit in einem unfreien Land. Zutritt und Zeltplatz gab es nur über Beziehungen. So kam Ingeborg Eichler 1978 auf das Gelände. So kam Wolfgang Eichler zwei Jahre später zur organisierten Freikörperkultur.

Sie haben erlebt, wie nach dem Fall der Mauer zwielichtige Bauunternehmen auf das Land spekulierten. Sie haben viele Anrufe bekommen, zweideutige Angebote und Anfragen aus dem Westen der Republik, von Menschen, die nicht glauben wollten, dass Nacktsein nicht immer erotisch gemeint sein muss. „Da rief einer an und wollte wissen, wie er denn am besten eine Erektion verbergen könne, wenn er auf dem Gelände eine bekäme“, sagt Wolfgang Eichler. „Ich erklärte ihm, dass ein Handtuch da ganz gut helfe, und er fragte mich, ob es denn nicht vielleicht auch potenzielle Interessenten gebe.“ Der Rentner schüttelt den Kopf. „Das alles ist kein Naturismus für uns.“ Ausgeschlagen haben sie die Angebote, nackt zu fliegen, nackt zu wandern, nackt zu reisen.

Wie das Leben sie schuf auf der Wiese zu sitzen, sich mit ein paar alten Freunden zu unterhalten, reicht ihnen. Zu ihrer gewohnten Zeit nehmen sie einen leichten Mittagsimbiss zu sich. Bekannte kommen vorbei. „Hallo Wolfgang, hallo Ingeborg“, sagen sie, wenn sie auf der Terrasse vor der Essensausgabe vorüber schlendern. „Na, hallo Dieter“ oder „Rainer, schön dich zu sehen“, grüßt das Paar zurück. Gegen halb drei trinken sie Kaffee mit Freunden, sitzen am Tisch und plaudern gedämpft. Abends wollen sie noch einen Spaziergang in die Umgebung machen. Bekleidet, versteht sich. Ein Aufsteller neben der Speisekarte kündigt einen Spieleabend an. Rommé und Mensch-ärgere-dich-nicht stehen auf dem Programm. Rainer Jentzsch will damit ein bisschen Leben in die Abendgestaltung bringen. Viele Teilnehmer erwartet er nicht für die erste Veranstaltung. „Manchmal dauert es ein bisschen“, sagt er. „Man darf nur die Hoffnung nicht aufgeben.“