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Geheimnis des Rietschelgiebels geknackt

Generationen von Schülern haben die Geschichte von Bautzens berühmtesten Giebel gelernt. Nun ist es raus: Es war die falsche.

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Von Christoph Scharf

Keine Bautzener Stadtführung kommt ohne einen Besuch auf der Ortenburg aus. Seit sieben Jahren können die Besucher dort den Giebel des berühmten Bildhauers Ernst Rietschel bestaunen, der eigentlich für das Dresdner Hoftheater geschaffen wurde. Die Geschichte dazu haben Generationen von Schülern und Tausende Touristen gehört: Nachdem in Dresden das Theater abgebrannt war, schenkte König Georg 1902 den Giebel der Stadt Bautzen, wo die Figurengruppe das Theater bis zu dessen Abriss 1969 zierte.

Überfällige Korrektur

Diese Geschichte hat nur einen Haken. Sie stimmt in einem wichtigen Punkt nicht. „Dass diese Legende korrigiert wird, ist längst überfällig“, sagt der Bautzener Schauspieler Michael Lorenz. Der 71-Jährige forscht seit zehn Jahren zur Theatergeschichte – und hat dabei eine Entdeckung gemacht, die ein völlig neues Licht auf die Herkunft des Rietschelgiebels wirft. „Dass König Georg ihn 1902 der Stadt Bautzen geschenkt hat, ist eine Legende, die der damalige Bürgermeister in die Welt gesetzt hat.“

Tatsächlich spielte jener Dr. Johannes Kaeubler eine völlig andere Rolle, als ihm die Geschichtsschreibung zuspricht. Zwar war schon immer bekannt, dass sich Kaeubler dafür einsetzte, den Rietschelgiebel aus der Residenzstadt, wo sich nach dem Brand kein Platz mehr für ihn fand, nach Bautzen zu holen. Aber wie ihm das gelang, wurde bislang immer vertuscht.

Denn Kaeublers Gegenspieler beim Kampf um den Rietschelgiebel saßen nicht in Dresden – sondern im eigenen Rathaus. „Die Stadträte hatten in Bautzen nie besonders viel für das Theater übrig“, sagt Michael Lorenz. Geld für nötige Umbauten bewilligten sie stets nur dann, wenn irgendwo gerade mal etwas übrig war – zum Beispiel beim Bau neuer Schulen. So fürchteten sie auch die Kosten, die durch eine Sanierung des beschädigten Rietschelgiebels drohten, von den Transportkosten ganz zu schweigen. „Außerdem hielten viele den Rietschelgiebel als viel zu pompös für eine Stadt wie Bautzen.“

Doch Johannes Kaeubler, in dessen Amtszeit auch große Vorhaben wie der Bau der Kronprinzenbrücke, des Justizgebäudes oder des Museums fielen, ließ sich von diesen Bedenken nicht abhalten. Nach umfangreichen Recherchen in mehreren Archiven entdeckte Michael Lorenz den Beweis dafür, dass die Geschichte des Giebels umgeschrieben werden muss.

Heimlicher Transport

Rietschels Figurengruppe, die die wichtigsten Szenen der „Orestie“ von Aischylos zeigt, kam nicht erst 1902 durch eine Schenkung des Königs nach Bautzen, sondern schon Jahre vorher – allein auf das Bemühen des damaligen Bürgermeisters.

„Ein von mir ausgewerteter Briefwechsel belegt, dass Kaeubler der Giebel bereits 1897 von den Königlichen Kunstsammlungen überlassen wurde.“ Aber der Transport nach Bautzen musste geheim geschehen – die Stadträte durften davon nichts wissen. Deshalb bestand Kaeubler darauf, dass das tonnenschwere Kunstwerk nicht per Bahn nach Bautzen geschickt wurde. Das wäre zu auffällig gewesen. „Stattdessen wurden die Figuren, sorgsam in Holzkisten verpackt, mit acht großen Pferdefuhrwerken nach Bautzen verschickt.“ Vermutlich übernahm diese Aufgabe das in Bautzen stationierte Infanterieregiment – in dessen Kaserne an der Löbauer Straße der Giebel dann für die nächsten Jahre heimlich eingelagert werden musste.

Kaeubler musste abwarten, bis der Stadtrat Geld für die überfällige Sanierung des Theaters bewilligte – und den Räten dann die Geschichte auftischen, König Georg habe den Giebel gerade der Stadt geschenkt. Der – langjähriger Freund Kaeublers – spielte anscheinend mit. So wurde die Legende zur offiziellen Geschichte. Und blieb es bis heute.